Gericht untersagt Grenzbebauung im Nachbarstreit
Das Oberverwaltungsgericht Lüneburg wies die Beschwerde der Beigeladenen zurück, die gegen eine Grenzbebauung auf ihrem Grundstück eine Baugenehmigung erhalten hatte, weil dies den bauordnungsrechtlichen Grenzabstandsvorschriften widerspricht und das Gebot der Rücksichtnahme verletzt. Die Nachbargenehmigung zum Bau des angrenzenden Apartmenthauses der Antragstellerin schuf einen Vertrauenstatbestand für den Erhalt des geringen Grenzabstands, der durch das neue Bauvorhaben der Beigeladenen unzumutbar beeinträchtigt würde.
Übersicht
- ✔ Das Wichtigste in Kürze
- ➜ Der Fall im Detail
- ✔ Häufige Fragen – FAQ
- Welche Rechte habe ich als Anlieger bei Grenzbebauungen?
- Wie wird der zulässige Grenzabstand bei Bebauungen bestimmt?
- Kann ich gegen eine erteilte Baugenehmigung Einspruch erheben?
- Wie sind historische Zustimmungen zu Grenzabständen rechtlich zu bewerten?
- Welche Rolle spielt der Vertrauenstatbestand in nachbarschaftlichen Baustreitigkeiten?
- § Relevante Rechtsgrundlagen des Urteils
- Das vorliegende Urteil
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✔ Das Wichtigste in Kürze
- Die Baugenehmigung für ein grenzständiges Apartmenthaus wurde gerichtlich für unzulässig erklärt, da sie bestehende Grenzabstandsvorschriften und das Gebot der Rücksichtnahme missachtet.
- Das Verwaltungsgericht Oldenburg hatte die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin angeordnet, und diese Entscheidung wurde vom OVG Lüneburg bestätigt.
- Die geplante Grenzbebauung hätte die Belichtung und Belüftung der angrenzenden Wohnräume erheblich beeinträchtigt.
- Die historische Zustimmung zu einem geringen Grenzabstand durch die Rechtsvorgänger der Beigeladenen legte die bauliche Entwicklung im Grenzbereich fest.
- Die Stadt E. hatte ursprünglich die Erhaltung des Grenzabstands gefordert, um historische Traufgassen zu bewahren.
- Die Beigeladene trug die Kosten des Beschwerdeverfahrens; die außergerichtlichen Kosten waren nicht erstattungsfähig.
- Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wurde auf 48.000 EUR festgesetzt.
Baurecht: Grenzbebauung und Grenzabstände
Grenzabstände stellen eine wichtige Regelung im Baurecht dar, um das Zusammenleben mit Nachbarn zu ermöglichen. Sie dienen dem Schutz von Belichtung, Besonnung und Belüftung angrenzender Grundstücke. Bei neuen Baumaßnahmen müssen bestimmte Mindestabstände zur Grundstücksgrenze eingehalten werden.
Eine Grenzbebauung liegt vor, wenn ein Gebäude auf oder sehr nahe an der eigenen Grundstücksgrenze errichtet wird. Solch eine Grenzbebauung kann zulässig sein, allerdings nur unter bestimmten Voraussetzungen. Insbesondere muss ein angemessener Grenzabstand gewährleistet bleiben. Eine zu geringe Distanz zwischen benachbarten Gebäuden kann schnell zu Konflikten und Rechtsstreitigkeiten führen.
➜ Der Fall im Detail
Streit um Grenzbebauung in Lüneburg
Die juristische Auseinandersetzung drehte sich um die Zulässigkeit einer Baugenehmigung für ein Apartmenthaus, das unmittelbar an der Grundstücksgrenze zur Wohnungseigentümergemeinschaft der Antragstellerin in der D. Straße 20, E., errichtet werden sollte.
Die Beigeladene, Eigentümerin des angrenzenden Grundstücks, plante den Abriss eines bestehenden Gebäudes, um dort ein neues, höheres Apartmenthaus zu bauen. Die Antragstellerin befürchtete durch die Grenzbebauung eine Beeinträchtigung ihrer Wohnräume durch eingeschränkte Belichtung und Belüftung, da das geplante Gebäude lediglich 2,50 m von ihrem Apartmenthaus entfernt stehen würde – genau wie das vorherige Gebäude. Die Baugenehmigung hierfür wurde am 4. Juni 2013 erteilt, trotz Widerspruch und der Anrufung des vorläufigen Rechtsschutzes durch die Antragstellerin.
Gerichtliche Entscheidung gegen die Grenzbebauung
Das Verwaltungsgericht Oldenburg erkannte in seiner Entscheidung am 18. Oktober 2013, dass die geplante Bebauung das Gebot der Rücksichtnahme verletzt und damit den bauordnungsrechtlichen Grenzabstandsvorschriften zuwiderläuft. Das Gericht ordnete die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin an, was die Umsetzung der Baugenehmigung vorläufig stoppte. Die Beigeladene legte daraufhin Beschwerde ein, jedoch bestätigte das Oberverwaltungsgericht Lüneburg die Entscheidung des Verwaltungsgerichts und wies die Beschwerde zurück. Die Begründung stützte sich auf die historische Zustimmung der Rechtsvorgänger der Beigeladenen zum geringen Grenzabstand und die daraus resultierende berechtigte Erwartung der Antragstellerin, dass dieser Zustand erhalten bleibt.
Vertrauenstatbestand und städtebauliche Ziele
Ein wesentlicher Aspekt in der Urteilsfindung war der Vertrauenstatbestand, der durch die Zustimmung der früheren Eigentümer zur ursprünglichen Bebauung geschaffen wurde. Diese Zustimmung ging über eine bloße Tolerierung der Unterschreitung des regulären Grenzabstands hinaus und umfasste eine umfassende planerische Zustimmung zu der gesamten Anordnung der Gebäude und deren Abstände zueinander. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass die Rechtsvorgänger der Beigeladenen nicht nur dem Bau des Gebäudes, sondern auch der spezifischen Platzierung der Fenster und Loggien zugestimmt hatten, was die Antragstellerin in ihrem Verhalten bezüglich des eigenen Gebäudes bestärkte.
Baurechtliche und planungsrechtliche Erwägungen
Das Oberverwaltungsgericht betonte, dass die Einhaltung des Grenzabstands nicht nur eine Frage des Nachbarrechts, sondern auch eine städtebauliche Notwendigkeit darstellt. Die Stadt E. hatte historisch die geringen Abstände zwischen den Gebäuden gefördert, um die charakteristischen Traufgassen (Lohnen) zu erhalten, welche sowohl die Belichtung als auch die Belüftung der Gebäude verbessern sollten. Diese planerische Entscheidung war zum Zeitpunkt der Erteilung der Baugenehmigung für das Gebäude der Antragstellerin relevant und hatte somit auch bei der Neuplanung Bestand zu haben.
Rechtliche Konsequenzen und Kosten
Die rechtliche Konsequenz des Urteils ist, dass die Baugenehmigung für das geplante Gebäude der Beigeladenen nicht durchgesetzt werden darf, solange die angeführten bauplanungsrechtlichen und nachbarrechtlichen Bedenken bestehen. Zusätzlich wurde entschieden, dass die Beigeladene die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen hat, während ihre außergerichtlichen Kosten nicht erstattungsfähig sind. Der Wert des Streitgegenstands im Beschwerdeverfahren wurde auf 48.000 EUR festgesetzt.
✔ Häufige Fragen – FAQ
Welche Rechte habe ich als Anlieger bei Grenzbebauungen?
Als Anlieger haben Sie bei Grenzbebauungen durch den Nachbarn grundsätzlich das Recht auf Schutz Ihrer Privatsphäre sowie auf ausreichenden Licht- und Lufteinfall. Das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) enthält dazu zwar keine konkreten Regelungen, die Rechtsprechung leitet aber aus dem Eigentumsrecht (§ 903 BGB) und dem nachbarrechtlichen Rücksichtnahmegebot gewisse Abwehrrechte ab.
Baut der Nachbar direkt an der Grundstücksgrenze, darf er in der Regel keine Fenster oder Balkone anbringen, die einen direkten Einblick auf Ihr Grundstück ermöglichen (sog. Fensterabwehrrecht). Ausnahmen gelten nur, wenn Sie dem zustimmen oder ein Fenster Bestandsschutz genießt.
Auch gegen eine Verschattung oder den Entzug von Licht und Luft durch grenznahe Bebauung können Sie sich unter Umständen wehren. Allerdings müssen Sie eine gewisse Beeinträchtigung dulden, solange diese unwesentlich bleibt. Wann die Grenze der Wesentlichkeit überschritten ist, hängt vom Einzelfall ab.
Um Ihre Rechte durchzusetzen, können Sie zunächst Widerspruch gegen die Baugenehmigung einlegen, soweit die Grenzbebauung Ihre subjektiv-öffentlichen Rechte verletzt. Dies setzt voraus, dass die verletzte Norm gerade Ihrem Schutz als Nachbar dient (sog. Drittschutz). Solche drittschützenden Normen finden sich vor allem in den Abstandsvorschriften der Landesbauordnungen.
Kommt es trotz eines Widerspruchs zur Erteilung der Baugenehmigung, können Sie dagegen Klage vor dem Verwaltungsgericht erheben. Daneben steht Ihnen auch der zivilrechtliche Unterlassungs- und Beseitigungsanspruch aus § 1004 BGB gegen rechtswidrige Störungen Ihres Eigentums zu.
Insgesamt sind Ihre Rechte als Anlieger bei Grenzbebauungen also durchaus weitreichend. Sie müssen nicht jede Beeinträchtigung hinnehmen, sondern können sich mit den Mitteln des öffentlichen Baurechts und des privaten Nachbarrechts dagegen zur Wehr setzen.
Wie wird der zulässige Grenzabstand bei Bebauungen bestimmt?
Der zulässige Grenzabstand bei Bebauungen wird in erster Linie durch die jeweiligen Landesbauordnungen geregelt. Diese enthalten Vorschriften zu den sogenannten Abstandsflächen, die ein Gebäude zu den Nachbargrundstücken einhalten muss.
Maßgebliche Kriterien für die Bemessung der Abstandsflächen sind dabei die Höhe (Wandhöhe) und Länge der dem Nachbargrundstück zugewandten Außenwand des Gebäudes. Je höher und länger die Wand ist, desto größer muss in der Regel auch der Grenzabstand sein.
Als grober Richtwert gilt meist ein Mindestabstand von 2,50 bis 3 Metern. Die genauen Abstandsmaße ergeben sich aber aus den konkreten Berechnungsvorschriften der Landesbauordnungen und können daher im Einzelfall variieren.
Neben den Landesbauordnungen können auch örtliche Bebauungspläne Festsetzungen zu den einzuhaltenden Grenzabständen enthalten. Diese gehen den allgemeinen Abstandsregeln der Bauordnungen vor. Sieht ein Bebauungsplan etwa eine geschlossene Bauweise vor, sind Grenzbebauungen in der Regel auch ohne Einhaltung von Abstandsflächen zulässig.
Unter bestimmten Voraussetzungen lassen die Bauordnungen auch Ausnahmen von den Abstandsflächenvorschriften zu, etwa für Garagen oder Gebäude ohne Aufenthaltsräume. Hier können geringere Grenzabstände ausreichen.
Schließlich können auch nachbarschaftsrechtliche Vereinbarungen oder Baulasten die Unterschreitung der regulären Abstandsflächen ermöglichen, wenn sich der Nachbar damit einverstanden erklärt. Dies erfordert aber stets eine Einzelfallbetrachtung.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich die zulässigen Grenzabstände in erster Linie nach den Abstandsflächenvorschriften der Landesbauordnungen richten, die durch örtliche Bebauungspläne und nachbarschaftliche Regelungen modifiziert werden können. Entscheidend sind letztlich immer die konkreten Umstände des Einzelfalls.
Kann ich gegen eine erteilte Baugenehmigung Einspruch erheben?
Ja, als betroffener Nachbar können Sie gegen eine erteilte Baugenehmigung Einspruch erheben, wenn Sie in Ihren subjektiv-öffentlichen Rechten verletzt sind. Dazu müssen Sie geltend machen, dass die Baugenehmigung gegen eine Rechtsnorm verstößt, die zumindest auch Ihrem Schutz als Nachbar dient (sog. Drittschutz).
Solche drittschützenden Normen finden sich insbesondere in den Abstandsvorschriften der Landesbauordnungen, die dem Schutz der Belichtung, Besonnung und Belüftung benachbarter Grundstücke dienen. Auch Festsetzungen eines Bebauungsplans können drittschützend sein, wenn sie etwa die Art der baulichen Nutzung oder die Höhe der Gebäude regeln.
Um Einspruch gegen die Baugenehmigung zu erheben, müssen Sie fristgerecht Widerspruch bei der zuständigen Baubehörde einlegen. Die Widerspruchsfrist beträgt in der Regel einen Monat ab Bekanntgabe der Baugenehmigung. Wurden Sie nicht am Baugenehmigungsverfahren beteiligt, beginnt die Frist erst mit Ihrer Kenntnis von der Genehmigung zu laufen.
Hilft die Baubehörde Ihrem Widerspruch nicht ab, können Sie anschließend innerhalb eines Monats Klage vor dem zuständigen Verwaltungsgericht erheben. Dabei müssen Sie darlegen, inwieweit die Baugenehmigung Ihre nachbarlichen Rechte verletzt.
Wichtig ist, dass Sie während des Widerspruchs- und Klageverfahrens auch einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung stellen. Andernfalls kann der Bauherr trotz des laufenden Verfahrens mit den Bauarbeiten beginnen. Nur wenn die aufschiebende Wirkung angeordnet wird, darf zunächst nicht gebaut werden.
Insgesamt haben Sie als Nachbar also durchaus Möglichkeiten, gegen eine Baugenehmigung vorzugehen, wenn diese Ihre Rechte beeinträchtigt. Allerdings müssen Sie die Fristen für Widerspruch und Klage beachten und im Verfahren substantiiert darlegen, inwieweit gerade Ihre subjektiv-öffentlichen Rechte verletzt sind. Eine bloße Rechtswidrigkeit der Genehmigung genügt nicht.
Wie sind historische Zustimmungen zu Grenzabständen rechtlich zu bewerten?
Historische Zustimmungen zu Grenzabständen können auch heute noch rechtliche Relevanz haben, wenn sie als Baulast oder Grunddienstbarkeit im Grundbuch eingetragen wurden. Durch solche Eintragungen werden die Vereinbarungen zu einem dauerhaften Recht, das auch für spätere Eigentümer bindend ist.
Liegt keine grundbuchliche Sicherung vor, kommt es entscheidend darauf an, ob die damalige Zustimmung formlos oder in einer bestimmten Form, etwa notariell beurkundet, erteilt wurde. Formlose Zustimmungen sind jederzeit frei widerruflich und entfalten keine Dauerwirkung. Der Nachbar kann sich dann nicht mehr darauf berufen.
Anders ist es bei Zustimmungen, die in einer bestimmten Form erteilt wurden. Diese können als einseitige Willenserklärung oder als vertragliche Vereinbarung ausgelegt werden. Sie binden dann grundsätzlich auch die Rechtsnachfolger, soweit sich aus der Erklärung nichts anderes ergibt.
Allerdings kann sich die Rechtslage auch nachträglich ändern, etwa durch eine Veränderung der Bauordnung oder des Bebauungsplans. Dann ist im Einzelfall zu prüfen, ob die frühere Zustimmung noch mit dem aktuellen öffentlichen Baurecht vereinbar ist. Widerspricht sie zwingenden öffentlich-rechtlichen Vorschriften, kann sie ihre Wirksamkeit verlieren.
In Streitfällen müssen die Gerichte daher sorgfältig den Inhalt und die Form der historischen Zustimmung auslegen und mit der aktuellen Rechtslage abgleichen. Dabei kommt es sehr auf die Umstände des Einzelfalls an. Eine pauschale Aussage zur fortdauernden Wirkung früherer Zustimmungen ist kaum möglich.
Insgesamt lässt sich festhalten: Historische Zustimmungen zu Grenzabständen können durchaus auch heute noch Bedeutung haben. Ihre rechtliche Tragweite hängt aber entscheidend davon ab, in welcher Form sie erteilt wurden und ob sie mit dem aktuellen öffentlichen Baurecht in Einklang stehen. Im Streitfall bedarf es stets einer sorgfältigen Prüfung und Abwägung.
Welche Rolle spielt der Vertrauenstatbestand in nachbarschaftlichen Baustreitigkeiten?
Der Vertrauenstatbestand spielt in nachbarschaftlichen Baustreitigkeiten eine wichtige Rolle, wenn es um den Schutz der berechtigten Erwartungen von Anliegern geht. Er besagt, dass derjenige, der im Vertrauen auf einen bestimmten baulichen Zustand Dispositionen getroffen hat, in diesem Vertrauen geschützt werden kann.
Ein solcher Vertrauensschutz kann sich zum einen aus der längerfristigen städtebaulichen Entwicklung eines Gebiets ergeben. Wenn etwa in einer Straße über Jahrzehnte nur eingeschossig gebaut wurde, können die Anlieger darauf vertrauen, dass dies auch in Zukunft so bleibt. Wird dann plötzlich ein mehrgeschossiges Gebäude errichtet, kann dies einen Vertrauensbruch darstellen.
Zum anderen kann der Vertrauenstatbestand auch durch konkrete Absprachen oder Zusagen zwischen den Nachbarn begründet werden. Hat der Nachbar etwa zugesagt, nur bis zu einer bestimmten Höhe zu bauen, und der Anlieger hat im Vertrauen darauf selbst Baumaßnahmen vorgenommen, kann er sich auf den Vertrauenstatbestand berufen.
Rechtlich wird der Vertrauenstatbestand vor allem im Wege der nachbarrechtlichen Abwägung berücksichtigt. Dabei sind die widerstreitenden Interessen der Beteiligten unter Berücksichtigung des Gebots der gegenseitigen Rücksichtnahme gegeneinander abzuwägen. Je schutzwürdiger das Vertrauen des Anliegers ist, desto eher kann es die Baufreiheit des Nachbarn überwiegen.
Allerdings begründet der Vertrauenstatbestand keinen absoluten Schutz. Er kann durch überwiegende Belange des Bauherrn oder durch Änderungen der Rechtslage, etwa durch einen neuen Bebauungsplan, durchbrochen werden. Auch bloße Gefälligkeiten oder unverbindliche Absprachen reichen nicht aus, um schutzwürdiges Vertrauen zu begründen.
Insgesamt kommt es also stets auf die Umstände des Einzelfalls an. Die Gerichte müssen sorgfältig prüfen, ob und inwieweit der Anlieger berechtigterweise auf einen Fortbestand der baulichen Situation vertrauen durfte und ob dieses Vertrauen die entgegenstehenden Interessen überwiegt. Der Vertrauenstatbestand ist dabei ein wichtiges Instrument, um die nachbarlichen Interessen in einen gerechten Ausgleich zu bringen.
§ Relevante Rechtsgrundlagen des Urteils
§ 34 Abs. 1 BauGB – Bauplanungsrechtliches Gebot der Rücksichtnahme
Dieses Gesetz ist zentral, da es vorschreibt, dass bei der Bebauung eines Grundstücks auf die umliegende Bebauung Rücksicht genommen werden muss, was bedeutet, dass die Belange der Nachbarn beachtet werden müssen, insbesondere hinsichtlich Belichtung, Belüftung und ähnlicher wohnqualitativer Aspekte.
Bauordnungsrechtliche Grenzabstandsvorschriften der jeweiligen Landesbauordnung
Die Grenzabstandsvorschriften sind relevant, weil sie den Mindestabstand definieren, den Gebäude zu den Grundstücksgrenzen einhalten müssen, um Konflikte zwischen den Grundstücksnachbarn zu vermeiden und eine ausreichende Belichtung und Belüftung sicherzustellen.
§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO – Verfahrensrechtliche Bestimmungen zur Beschwerde
Dieser Paragraph regelt die Beschwerdemöglichkeiten und Beschränkungen im verwaltungsgerichtlichen Verfahren und ist relevant, da er die Reichweite der gerichtlichen Überprüfung bestimmt und somit direkt das Verfahren und die möglichen Rechtsmittel der Beteiligten beeinflusst.
§ 154 VwGO – Kostenentscheidung im Verwaltungsprozess
Die Kostenregelung in Verwaltungsverfahren ist entscheidend für das Verständnis, wer im Falle einer gerichtlichen Auseinandersetzung die Kosten zu tragen hat, besonders relevant, wenn es um die Durchsetzbarkeit von Rechtsansprüchen geht und wer letztendlich die finanzielle Last eines Rechtsstreits trägt.
Niedersächsisches Nachbarrechtsgesetz – Spezielle nachbarrechtliche Regelungen
Dieses Landesgesetz ist wichtig, weil es spezifische Regelungen über das Zusammenleben und die gegenseitigen Rechte und Pflichten von Nachbarn beinhaltet, insbesondere im Hinblick auf Abstandsflächen und andere bauliche Vorgaben, die direkte Auswirkungen auf benachbarte Grundstücke haben können.
§ 162 Abs. 3 VwGO – Streitwertfestsetzung im Verwaltungsstreitverfahren
Die Festsetzung des Streitwerts hat unmittelbare Auswirkungen auf die Kosten des Verfahrens und kann die Entscheidung beeinflussen, ob eine rechtliche Auseinandersetzung aufgrund der potenziellen Kosten und Risiken angestrebt oder vermieden wird.
Das vorliegende Urteil
OVG Lüneburg – Az.: 1 ME 222/13 – Beschluss vom 29.01.2014
Die Beschwerde der Beigeladenen gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Oldenburg – 4. Kammer – vom 18. Oktober 2013 wird zurückgewiesen.
Die Beigeladene trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 48.000,- EUR festgesetzt.
Gründe
I.
Die Antragstellerin wendet sich gegen eine Baugenehmigung zur Errichtung eines Apartmenthauses unmittelbar an ihrer Grundstücksgrenze, weil sie eine unzumutbare Beeinträchtigung der zur Grenze orientierten Wohnräume ihres Gebäudes befürchtet.
Der Antragstellerin, einer Wohnungseigentümergemeinschaft, gehört das Grundstück D. straße 20 auf E.. Dieses ist mit einem im Jahr 1995 errichteten Apartmenthaus mit vier Vollgeschossen und ausgebautem Dachgeschoss bebaut. Zur seiner südlichen Grenze hält das Gebäude, das in seiner Südwand Loggien sowie Fenster aufweist, die Aufenthaltsräume belichten, einen Grenzabstand von rund 2,50 m. Dieser der Vorgängerbebauung entsprechende geringe Grenzabstand geht ausweislich der Bauakte auf eine städtebauliche Forderung der Stadt E. zurück, die zum damaligen Zeitpunkt noch die historisch überkommenen Traufgassen (Lohnen) zwischen den Gebäuden erhalten wollte und in dem Abstand zugleich eine zu begrüßende Abgrenzung von höherer und niedrigerer Bebauung sah. Die damaligen Eigentümer des südlich angrenzenden Grundstücks D. straße 19 stimmten dem Vorhaben zu.
Das vorgenannte Grundstück D. straße 19 steht heute im Eigentum der Beigeladenen. Gegenwärtig ist es mit einem älteren zweigeschossigen Pensionshaus bebaut, das zur nördlichen Grundstücksgrenze einen Abstand von mindestens 2,50 m hält. Die Beigeladene möchte das Gebäude abreißen und an seiner Stelle ein Apartmenthaus mit drei Vollgeschossen und ausgebautem Dachgeschoss errichten. Das rund 11,5 m hohe Gebäude, dessen Tiefe in etwa dem auf dem Grundstück der Antragstellerin stehenden Gebäude entspricht, soll grenzständig auf der nördlichen Grundstücksgrenze errichtet werden. Für dieses Vorhaben erteilte der Antragsgegner unter dem 4. Juni 2013 die Baugenehmigung.
Die Antragstellerin erhob Widerspruch und beantragte erfolglos, die Vollziehung der Baugenehmigung auszusetzen. Auf ihren Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz hat das Verwaltungsgericht Oldenburg mit Beschluss vom 18. Oktober 2013 die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs angeordnet. Die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung verstoße wegen der geplanten Grenzbebauung gegen das Gebot der Rücksichtnahme und infolgedessen gegen die bauordnungsrechtlichen Grenzabstandsvorschriften. Für das Grundstück der Antragstellerin sei es unzumutbar, dass ein mehr als 11 m hohes Gebäude auf einen Abstand von lediglich noch 2,50 m an ihr Gebäude heranrücke und die Belichtung und Belüftung empfindlich einschränke. Zu berücksichtigen sei dabei die Entstehungsgeschichte ihres Gebäudes. Dieses sei mit Zustimmung der Rechtsvorgänger der Beigeladenen errichtet worden, sodass damit die bauliche Entwicklung im Grenzbereich vorgezeichnet gewesen sei. Richtig sei zwar, dass sich der Bauherr des Gebäudes D. straße 20 bewusst entschieden habe, Fenster und Loggien zur Südgrenze hin auszurichten, das allerdings mit Billigung der Rechtsvorgänger der Beigeladenen. Auf bautechnische Lösungsmöglichkeiten wie etwa den Einbau weiterer Fenster in Richtung Osten müsse sich die Antragstellerin nicht verweisen lassen. Das Interesse der Beigeladenen sei nicht in besonderer Weise schutzwürdig.
Gegen diesen Beschluss wendet sich die Beigeladene mit ihrer Beschwerde; der Antragsgegner schließt sich dem Beschwerdevorbringen ohne eigenen Antrag im Wesentlichen an. Die Antragstellerin tritt der Beschwerde entgegen.
II.
Die Beschwerde der Beigeladenen hat keinen Erfolg.
Die dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigen keine Änderung des angegriffenen Beschlusses. Der Senat teilt vielmehr die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass die geplante grenzständige Bebauung auf dem Grundstück der Beigeladenen gegen das aus § 34 Abs. 1 BauGB folgende bauplanungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme, dessen Anforderungen das Verwaltungsgericht zutreffend wiedergegeben hat, verstößt. Die Einwände der Beigeladenen und des Antragsgegners gestatten keine andere Betrachtung.
Ohne Erfolg wendet sich die Beigeladene zunächst gegen die Auffassung des Verwaltungsgerichts, mit der Zustimmung ihrer Rechtsvorgänger zu einer Bebauung des Grundstücks der Antragstellerin mit geringem Grenzabstand hätten diese einen Vertrauenstatbestand dahingehend geschaffen, dass ein solcher Abstand auch auf dem Baugrundstück erhalten bleibt. Soweit die Beigeladene meint, ihr Rechtsvorgänger habe allein eine Unterschreitung des regelmäßigen Grenzabstands von 1 H gebilligt, nicht aber auf eine eigene Bebauung auf der Grenze verzichtet, trifft das nach dem Inhalt der Bauakten nur teilweise zu. Die Nachbarzustimmung hatte nicht den vorgenannten eng begrenzten Inhalt, sondern sie erstreckte sich auf das Vorhaben als solches einschließlich seines Grenzabstands und der Fensteröffnungen sowie Loggien nach Süden. Bedingt war die Zustimmung zudem dadurch, dass auf der Grenze eine Sichtschutzmauer errichtet und die gesamte Hoffläche auf Kosten des damaligen Bauherrn einheitlich gepflastert werden sollte. Eine derartige einvernehmliche Gesamtlösung erweckt das – berechtigte – Vertrauen, der Nachbar werde nunmehr seinerseits kein Gebäude errichten, das einen gewissen Mindestabstand unterschreitet und damit die in den vorstehenden Festlegungen zum Ausdruck kommende planerische Konzeption obsolet macht. Auf die privatrechtlichen Regelungen des Niedersächsischen Nachbargesetzes kommt es in diesem Zusammenhang nicht an.
Ein schutzwürdiges Vertrauen der Antragstellerin dahingehend, dass es auch bei einer Neubebauung des Grundstücks der Beigeladenen bei einem geringen Grenzabstand bleiben werde, folgt zudem aus dem Verhalten des Antragsgegners bzw. der Stadt E.. Der auf dem antragstellerischen Grundstück realisierte Grenzabstand beruht nämlich auf dem damaligen städtebaulichen Ziel der Stadt E., die zwischen den Gebäuden D. straße 19 und 20 vorhandene Lohne zu erhalten. Dieses Ziel, das ausweislich der Erteilung des Einvernehmens mit Schreiben vom 23. August 1994 der Genehmigung der abweichenden Bauweise zugrunde lag, galt für beide Grundstücke gleichermaßen. Das hindert zwar weder die Stadt E. noch den Antragsgegner, nunmehr das gegenläufige Ziel der Schließung von Lohnen zu verfolgen. Soweit jedoch – wie in diesem Fall – im Vertrauen auf den Erhalt der Lohnen gebaut worden ist, sind die entsprechenden Dispositionen schutzwürdig. Das gilt gerade angesichts der erheblichen Gesamtbreite der Lohne von rund fünf Metern, die über das übliche Maß deutlich hinausgeht und die zu einer ausreichenden Belüftung und Belichtung sowie Besonnung beider Nachbargrundstücke jedenfalls beiträgt (vgl. dazu Senat, Beschl. v. 29.8.2013 – 1 LA 219/11 -, juris Rn. 13). Ein Vorhaben, das sich über eine daran orientierte Bestandsbebauung ohne Weiteres hinwegsetzt, ist mit dem Gebot der Rücksichtnahme nicht vereinbar (vgl. dazu jetzt BVerwG, Urt. v. 5.12.2013 – 4 C 5.12 -, Rn. 21f). Auf die Frage, ob schon ein Verstoß gegen das Gebot gesunder Wohnverhältnisse vorliegt, kommt es vor diesem Hintergrund nicht mehr an.
Entgegen der Ansicht der Beigeladenen ist die Antragstellerin auch nicht gehalten, durch den Einbau zusätzlicher Fenster nach Osten selbst für eine ausreichende Belichtung der durch das Bauvorhaben verdunkelten Aufenthaltsräume zu sorgen. Dabei kann dahinstehen, ob der Grund dafür, dass nach Osten hin vergleichsweise wenige Fenster angeordnet sind, in der – legalen oder illegalen – Hinterhofbebauung liegt. Maßgeblich ist allein, dass das Gebäude auf dem Grundstück der Beigeladenen in der vorliegenden Gestalt im Vertrauen darauf errichtet worden ist, dass die Lohne nicht einseitig geschlossen wird. Ein Vorrang der architektonischen Selbsthilfe ist deshalb in diesem Fall nicht auszumachen, und zwar auch dann nicht, wenn sich die Beigeladene an den Kosten beteiligt.
Der Senat teilt auch nicht die Auffassung, dass ein derartiges Verständnis der Nachbarzustimmung das Rechtsinstitut der Baulast entwerte. Rücksicht auf den vorhandenen Gebäudebestand ist nicht nur/erst dann zu nehmen, wenn derartige Pflichten durch Baulast gesichert sind. Im Gegenteil folgt bereits aus dem Begriff des „Einfügens“ in § 34 Abs. 1 BauGB, dass die vorhandene Bebauung den Rahmen für die zulässige Art und das zulässige Maß einer weiteren Bebauung setzt. Zu Unrecht meint die Beigeladene in diesem Zusammenhang, dass eine daraus resultierende Baubeschränkung für sie nicht erkennbar gewesen sei. Im Gegenteil drängt es sich geradezu auf, dass es rücksichtslos ist, die Fenster und Loggien von Aufenthaltsräumen eines benachbarten Gebäudes in derart kurzer Distanz mit einem mehr als elf Meter hoch aufragenden Gebäude zu verstellen. Die Antragstellerin hat insofern zu Recht darauf hingewiesen, dass sich in der Örtlichkeit unübersehbar ein Bild biete, dem die Grenzen des Gestaltungsspielraums zu entnehmen seien.
Soweit das Gebäude auf dem Grundstück der Antragstellerin schließlich den nach der Baugenehmigung vorgegebenen Grenzabstand unterschreiten sollte, ließe das die angegriffene Baugenehmigung ebenfalls nicht in günstigerem Licht erscheinen. Ein tatsächliches Unterschreiten des genehmigten Grenzabstands mag dazu führen, dass man der Beigeladenen – dem nachbarlichen Austauschverhältnis entsprechend – ein vergleichbares Heranrücken an die Grenze gestattet. Es rechtfertigt indes keine Grenzbebauung.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 und 3 i. V. mit § 162 Abs. 3 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG; der Senat schließt sich den Erwägungen des Verwaltungsgerichts an.