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Jahresfrist für  Nachbarwiderspruch gegen Baugenehmigung

Baugenehmigung rechtswidrig, aber Widerspruch zu spät: Was gilt?

Die rechtliche Thematik rund um die Jahresfrist für Nachbarwidersprüche gegen Baugenehmigungen beleuchtet ein zentrales Spannungsfeld im Baurecht. Sie berührt grundlegend die Rechte von Anwohnern und die Pflichten von Bauherren sowie die Verantwortung der Behörden bei der Erteilung von Baugenehmigungen. Speziell fokussiert sich diese Thematik auf die Fragestellung, inwieweit und unter welchen Voraussetzungen ein Nachbar gegen eine ihm nicht explizit mitgeteilte Baugenehmigung Einspruch erheben kann. Dies schließt Überlegungen zur Kenntnisnahme solcher Genehmigungen und der daraus resultierenden Fristen für einen Widerspruch ein.

Von besonderer Bedeutung sind dabei auch die baurechtlichen Regelungen, die sich auf die Baugenehmigungsverfahren und insbesondere auf die Berechnung von Abstandsflächen auswirken. In diesem Kontext spielen sowohl das Nachbarschaftsrecht als auch die detaillierte Auslegung und Anwendung der relevanten gesetzlichen Bestimmungen eine wesentliche Rolle. Die Entscheidungen in solchen Fällen haben oft weitreichende Konsequenzen, sowohl für die individuellen Rechte der betroffenen Nachbarn als auch für die Umsetzung und Planung von Bauvorhaben.

Weiter zum vorliegenden Urteil Az.: 8 S 2204/19  >>>

Das Wichtigste in Kürze


Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg entschied, dass ein Widerspruch gegen eine Baugenehmigung, die einem Nachbarn nicht bekannt gegeben wurde, innerhalb eines Jahres nach Erlangung sicherer Kenntnis darüber eingelegt werden muss. Dies gilt unabhängig von der Vollständigkeit der Bauvorlagen und betrifft auch die Fälle, in denen die hohen Anforderungen für einen Einwendungsausschluss nach § 55 Abs. 2 Satz 2 LBO nicht erfüllt waren.

Zentrale Punkte aus dem Urteil:

  1. Jahresfrist für Nachbarwiderspruch: Ein Nachbar muss gegen eine ihm nicht bekannt gegebene Baugenehmigung innerhalb eines Jahres Widerspruch einlegen, sobald er sichere Kenntnis davon hat.
  2. Unabhängigkeit von Bauvorlagen: Die Frist gilt unabhängig davon, ob die Bauvorlagen die Anforderungen für einen Einwendungsausschluss nach § 55 Abs. 2 Satz 2 LBO erfüllen.
  3. Rechtsprechungsänderung: Das Gericht änderte das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart und hob die baurechtliche Entscheidung der Beklagten auf, die dem Widerspruch des Beigeladenen abhalf.
  4. Kostenverteilung: Sowohl die Beklagte als auch der Beigeladene tragen die Kosten des Berufungsverfahrens zur Hälfte.
  5. Keine Revision zugelassen: Das Gericht ließ keine Revision zu, wodurch das Urteil endgültig ist.
  6. Problematische Präklusion: Die Frage der Präklusion nach § 55 Abs. 2 Satz 2 LBO war zweifelhaft, da die Bauvorlagen zum Zeitpunkt der Angrenzerbenachrichtigung unvollständig waren.
  7. Bedeutung der zuverlässigen Kenntnis: Wichtig war der Zeitpunkt, zu dem der Nachbar zuverlässige Kenntnis von der Baugenehmigung hatte, unabhängig von der Vollständigkeit der Bauvorlagen.
  8. Behandlung unvollständiger Bauvorlagen: Das Gericht legte dar, dass ein Irrtum über die Erfolgsaussichten eines Rechtsbehelfs, der durch unvollständige oder fehlerhafte Bauvorlagen verursacht wurde, keine Verhinderung der rechtzeitigen Einlegung eines Widerspruchs darstellt.

Im Mittelpunkt des vorliegenden Falls steht die Problematik der Jahresfrist für Nachbarwidersprüche gegen Baugenehmigungen, ein wesentlicher Aspekt des Baurechts. Die Kläger, Eigentümer eines Grundstücks in Stuttgart, beantragten 2010 eine Baugenehmigung für ein zweigeschossiges Wohnhaus mit Satteldach, einschließlich vier Dachgauben, von denen zwei auf der Südwestseite errichtet werden sollten. Diese Seite grenzte an das Grundstück des Beigeladenen.

Die Herausforderung der Baugenehmigung und Nachbarrechte

Die Baugenehmigung wurde von der zuständigen Behörde erteilt, und die Kläger nahmen daraufhin Veränderungen an der Bauausführung vor, insbesondere im Hinblick auf die Positionierung und Größe der Dachgauben auf der Südwestseite. Diese Änderungen wurden ebenfalls genehmigt. Allerdings stellte sich später heraus, dass die Abstandsflächen, die für die Dachaufbauten erforderlich waren, nicht eingehalten wurden. Dieser Verstoß gegen baurechtliche Bestimmungen führte zu einer rechtlichen Auseinandersetzung.

Die Rolle der Landesbauordnung und Abstandsflächen

Das rechtliche Problem in diesem Fall ergab sich aus der Novellierung der Landesbauordnung im Jahr 2010, die besagte, dass Dachgauben bei der Berechnung der Abstandsflächen miteinzubeziehen sind. Diese Änderung wurde bei der Prüfung der Baugenehmigung zunächst nicht berücksichtigt. Der Beigeladene, der von dieser Situation betroffen war, legte Widerspruch gegen die Baugenehmigung ein, allerdings erst nachdem ein neuer Abstandsflächenplan vorgelegt wurde, der die Nichteinhaltung der Abstandsflächen aufzeigte.

Juristische Komplexität im Baurecht

Das Verwaltungsgericht Stuttgart wies die Klage der Kläger gegen den Teilabhilfebescheid der Behörde, der dem Widerspruch des Beigeladenen stattgab, ab. Daraufhin ging der Fall in die Berufung. Der Kern der Auseinandersetzung lag in der Frage, ob der Widerspruch des Beigeladenen rechtzeitig erfolgt war und ob die Baugenehmigung aufgrund der nicht eingehaltenen Abstandsflächen rechtswidrig war.

Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg entschied, dass der Widerspruch des Beigeladenen tatsächlich zu spät erfolgt war. Die Entscheidung begründete das Gericht damit, dass der Beigeladene bereits früher hätte erkennen können und müssen, dass er durch die Baumaßnahmen in seinen Rechten beeinträchtigt wird. Die Tatsache, dass die Baugenehmigung nicht amtlich bekanntgegeben worden war, entband den Beigeladenen nicht von der Verpflichtung, seinen Widerspruch innerhalb eines Jahres einzulegen, nachdem er von der Baugenehmigung Kenntnis erlangt hatte oder hätte erlangen müssen.

Das Gericht führte weiter aus, dass die Baugenehmigung zwar aufgrund der nicht eingehaltenen Abstandsflächen rechtswidrig erteilt worden war, jedoch die rechtswidrige Baugenehmigung nicht mehr zu Lasten der Kläger geändert werden konnte, da der Widerspruch des Beigeladenen verspätet war.

Schlussfolgerungen für das Baurecht und Nachbarschaftsrecht

Diese Entscheidung verdeutlicht die Wichtigkeit der Einhaltung von Fristen im Baurecht und das Zusammenspiel von baurechtlichen Regelungen und Nachbarschaftsrecht. Sie zeigt auf, dass die Kenntnis von baurechtlichen Vorschriften und eine sorgfältige Prüfung von Baugenehmigungsverfahren essentiell sind, um rechtliche Konflikte und daraus resultierende Folgen zu vermeiden.

Abschließend lässt sich festhalten, dass das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg ein wichtiges Beispiel für die Komplexität und Tragweite von Rechtsstreitigkeiten im Bauwesen darstellt. Es unterstreicht die Bedeutung einer genauen Kenntnis der baurechtlichen Vorschriften und der Notwendigkeit, bei der Planung und Ausführung von Bauvorhaben auf die Einhaltung aller relevanten Regeln zu achten.

Wichtige Begriffe kurz erklärt


Was bedeutet die „Jahresfrist“ im Kontext eines Nachbarwiderspruchs gegen eine Baugenehmigung?

Die „Jahresfrist“ im Kontext eines Nachbarwiderspruchs gegen eine Baugenehmigung bezieht sich auf den Zeitraum, innerhalb dessen ein Nachbar Widerspruch gegen eine erteilte Baugenehmigung erheben kann. Diese Frist beginnt ab dem Zeitpunkt, in dem der Nachbar Kenntnis von der Baugenehmigung hätte haben müssen, weil sich das Vorliegen der Baugenehmigung aufdrängen musste und es ihm möglich und zumutbar war, sich hierüber etwa durch Nachfrage beim Bauherrn oder der Baubehörde Gewissheit zu verschaffen.

Wenn ein Nachbar sich durch eine bauliche Maßnahme auf dem benachbarten Grundstück in einem drittschützenden Nachbarrecht (z.B. Abstandsflächenrechte) verletzt sieht, sollte er unmittelbar nach Kenntniserlangung von der Genehmigung und gegebenenfalls nach der Einholung anwaltlichen Rats Widerspruch gegen die dem Nachbarn erteilte Genehmigung erheben.

Es ist wichtig zu wissen, dass die einfache Übergabe der Baugenehmigung durch den Bauherrn selbst (z.B. in Kopie „über den Gartenzaun“ oder als Postwurf in die nachbarlichen Briefkästen) nicht ausreicht, um die einmonatige Widerspruchsfrist beim Nachbarn in Gang zu setzen. Ein Verwaltungsakt kann nur von der Behörde selbst „bekanntgegeben“ werden.


Das vorliegende Urteil

VGH Baden-Württemberg – Az.: 8 S 2204/19 – Beschluß vom 06.02.2020

Leitsätze

Um seine Rechte zu wahren, muss ein Nachbar gegen eine ihm nicht bekannt gegebene Baugenehmigung innerhalb eines Jahres, nachdem er von ihr sichere Kenntnis erlangt hat oder hätte erlangen müssen, Widerspruch einlegen, und zwar unabhängig davon, ob hinsichtlich der Bauvorlagen die hohen Anforderungen für einen Einwendungsausschluss nach § 55 Abs. 2 Satz 2 LBO erfüllt waren.


Auf die Berufung der Kläger wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 12. Dezember 2018 – 13 K 17534/17 – geändert. Die baurechtliche Entscheidung der Beklagten vom 8. August 2013 wird aufgehoben, soweit sie dem Widerspruch des Beigeladenen vom 13. Dezember 2012 (betreffend die Dachaufbauten in Richtung Südwest, zum H… Weg …) abhilft.

Die Beklagte und der Beigeladene tragen die Kosten des Berufungsverfahrens jeweils zur Hälfte.

Die Kostenentscheidung im Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 12. Dezember 2018 – 13 K 17534/17 – wird geändert. Die Kläger als Gesamtschuldner und die Beklagte tragen die Kosten des Verfahrens jeweils zur Hälfte, mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese jeweils selbst tragen.

Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird auf 5.000,– EUR festgesetzt.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

A.

Die Kläger wenden sich gegen die Teilaufhebung einer ihnen erteilten Baugenehmigung im Wege eines auf den Widerspruch des Beigeladenen ergangenen Teilabhilfebescheids.

Am 26.02.2010 beantragten die Kläger eine Baugenehmigung für den Neubau eines zweigeschossigen Wohnhauses mit Satteldach auf ihrem Grundstück H… Weg … in … Stuttgart (Flst. Nr. …). Für das Dach wurde die Errichtung von insgesamt vier Dachgauben beantragt; davon zwei auf der Südwestseite. Südwestlich des Baugrundstücks liegt das Grundstück des Beigeladenen (H… Weg … / Ix F… …, Flst. Nr. …).

Mit Bescheid vom 21.06.2010 erteilte die Beklagte die beantragte Baugenehmigung. Der Beigeladene erhob hiergegen keinen Widerspruch.

Am 30.09.2010 beantragten die Kläger die Genehmigung einer veränderten Bauausführung. Für die Südwestseite ihres Vorhabens wurden eine andere Positionierung der Dachgauben sowie die Verkleinerung einer der Dachgauben beantragt.

Nach Durchführung der Angrenzerbenachrichtigung genehmigte die Beklagte mit Bescheid vom 15.12.2010 die geänderte Bauausführung.

Mit Schreiben vom 07.03.2011 und 03.06.2011 meldete das Regierungspräsidium Stuttgart Bedenken gegen die Zurückweisung der von einem anderen Nachbarn – wegen der nordöstlich angeordneten Dachgauben – erhobenen Widersprüche gegen die Genehmigungen vom 21.06.2010 und vom 15.12.2010 an. Die Bauanträge der Kläger vom 26.02.2010 und 30.09.2010 fielen unter die seit dem Jahre 2010 geltende Fassung der Landesbauordnung. § 5 Abs. 5 LBO n.F. schließe Dachgauben bei der Berechnung der Abstandsflächen mit ein. Dies sei bei der Prüfung der Bauanträge nicht berücksichtigt worden.

Der von den Klägern beauftragte Vermessungsingenieur fertigte daraufhin unter dem 09.08.2012 einen neuen Abstandsflächenplan, der am 28.08.2012 zu den Akten der Beklagten gelangte.

Mit Schreiben vom 13.12.2012 legte nunmehr auch der Beigeladene Widerspruch gegen die Baugenehmigung vom 15.12.2010 ein. Zur Begründung verwies er auf das Schreiben des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 03.06.2011. Er vertrat die Auffassung, sein Widerspruch sei nicht verspätet, weil zunächst unvollständige Planvorlagen vorgelegt worden seien, beantragte aber zugleich Wiedereinsetzung.

Mit baurechtlicher Entscheidung vom 08.08.2013 half die Beklagte den Widersprüchen des Beigeladenen und des anderen Nachbarn im Hinblick auf die Einwände gegen die Dachgauben ab. Unter Nr. I des Bescheids wurden die am 21.06.2010 und 15.12.2010 erteilten Baugenehmigungen hinsichtlich der Dachaufbauten mit Wirkung ex tunc aufgehoben. Unter Nr. Il wurde angeordnet, dass die Dachaufbauten nach Bestandskraft der Abhilfeentscheidung zu beseitigen seien. Rechtsgrundlage der Abhilfeentscheidung sei § 72 VwGO. Beide Baugenehmigungen seien rechtswidrig erteilt worden und daher aufzuheben, denn sie fielen bereits unter die 2010 novellierte Landesbauordnung. Danach seien nunmehr Dachaufbauten nach § 5 Abs. 5 Nr. 1 LBO bei der Berechnung der Abstandsflächen miteinzubeziehen. Wie in dem Abstandsflächenplan des Vermessungsingenieurs vom 09.08.2012 dargestellt, seien die erforderlichen Abstandsflächen im Bereich der Dachaufbauten von 29 cm bis zu 44 cm unterschritten. Eine Abweichung nach § 6 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 LBO sei nicht möglich. Die Beseitigungsanordnung stütze sich auf § 65 Satz 1 LBO. Das der Baurechtsbehörde eingeräumte Ermessen sei auf Null reduziert, da nicht ersichtlich sei, wie auf andere Weise als durch die Beseitigung der Gebäudeteile ein rechtmäßiger Zustand ohne Verletzung von Nachbarrechten wiederhergestellt werden könne.

Am 05.09.2013 haben die Kläger Klage beim Verwaltungsgericht Stuttgart erhoben und beantragt, Nr. I des Teilabhilfebescheids der Beklagten vom 08.08.2013 aufzuheben.

Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit Urteil vom 12.12.2018 – 13 K 17534/17 – abgewiesen.

Der Senat hat mit Beschluss vom 09.08.2019 – 8 S 437/19 – auf den Antrag der Kläger die Berufung wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils zugelassen, soweit das Verwaltungsgericht die Klage gegen den Teilabhilfebescheid der Beklagten vom 08.08.2013 in Bezug auf den Widerspruch des Beigeladenen (Dachaufbauten in Richtung Südwest, zum H… Weg …) abgewiesen hat. Im Übrigen (Abhilfe zugunsten des anderen, vor dem Verwaltungsgericht ebenfalls beigeladenen Nachbarn) hat der Senat den Antrag auf Zulassung der Berufung abgelehnt.

Die Kläger haben die vom Senat zugelassene Berufung fristgerecht begründet. Sie sind der Auffassung, die Teilabhilfe zugunsten des Beigeladenen habe nicht erfolgen dürfen, da dieser seinen Widerspruch nicht rechtzeitig erhoben habe und für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kein Raum sei.

Die Kläger beantragen, das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 12. Dezember 2018 – 13 K 17534/17 – zu ändern und den Teilabhilfebescheid der Beklagten vom 8. August 2013 aufzuheben, soweit er in Bezug auf den Widerspruch des Beigeladenen (Dachaufbauten in Richtung Südwest, zum H… Weg …) ergangen ist.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Sie macht geltend, zwar seien die Gauben spätestens im Januar 2011 auf der Südwestseite des Bauvorhabens der Kläger errichtet worden und habe der Beigeladene als Eigentümer und Bewohner des südwestlich an das Baugrundstück angrenzenden Grundstücks die Möglichkeit gehabt, deren Errichtung zur Kenntnis zu nehmen. Die Maßgeblichkeit dieses Zeitpunkts entspreche zwar grundsätzlich auch der ständigen Rechtsprechung der Baurechtssenate des Verwaltungsgerichtshofs und des Bundesverwaltungsgerichts. Ein Abstellen auf diesen Zeitpunkt sei in der hier gegebenen, besonderen Fallkonstellation jedoch problematisch. Denn im vorliegenden Fall habe der Beigeladene die Bauvorlagen vom 15.09.2010 gekannt, auf deren Grundlage die Baugenehmigung vom 15.12.2010 erteilt worden sei. In diesen Bauvorlagen seien die nach Südwesten zu errichtenden Gauben enthalten gewesen. Der Beigeladene hätte damit zwar bereits aus diesen Bauvorlagen ersehen können, dass er in seinen Nachbarrechten verletzt werden würde. Da die Planvorlagen aber nicht ordnungsgemäß gewesen seien, habe nach der bisherigen Rechtsprechung keine Präklusion (nach § 55 Abs. 2 Satz 2 LBO) eintreten können. Es sei indessen widersprüchlich, die Präklusion zu verneinen und gleichwohl dem Beigeladenen zuzumuten, aus den errichteten Gauben abzulesen, dass er in seinen Rechten beeinträchtigt sei und Widerspruch einlegen müsse. Im Übrigen habe Bestandskraft der Baugenehmigung vom 15.12.2010 bereits wegen des form- und fristgerecht eingelegten Widerspruchs eines anderen Nachbarn (des beim Verwaltungsgericht Beigeladenen zu 1) nicht eintreten können. Das vorliegende Bauvorhaben sei nämlich nicht teilbar.

Der Beigeladene beantragt ebenfalls, die Berufung zurückzuweisen.

Zur Begründung führt er aus, er beziehungsweise sein Rechtsanwalt hätten jeweils nach Angrenzerbenachrichtigung durch die Beklagte Einsicht in die Bauakten genommen, wobei den Bauanträgen vom 26.02. sowie vom 30.09.2010 der (bisherige) Abstandsflächenplan des Vermessungsingenieurs W. vom 22.02.2010 beigefügt gewesen sei, ohne eine Unterschreitung der Abstandsflächen auszuweisen. Zudem seien beide Anträge ungeachtet der zum 01.03.2010 erfolgten Novellierung der Landesbauordnung genehmigt worden, so dass er keine Ansatzpunkte habe feststellen können, auf deren Basis ein Widerspruch Aussicht auf Erfolg hätte haben können. Da die Genehmigung des zweiten Baugesuchs ihm nicht bekannt gegeben worden sei, habe für ihn keine Widerspruchsfrist zu laufen begonnen. Erst mit dem zweiten Baugesuch habe sich die Frage der Vereinbarkeit der Dachaufbauten mit § 5 LBO gestellt. Er habe mit Schreiben vom 13.12.2012 unmittelbar Widerspruch erhoben, nachdem er Kenntnis von dem Schreiben des Regierungspräsidiums vom 03.06.2011 sowie von dem Abstandsflächenplan des Vermessungsingenieurs W. vom 09.08.2012 erlangt habe. Der Widerspruch sei daher „innerhalb Jahresfrist“ erfolgt und nicht verspätet. Er habe nicht damit rechnen müssen, dass die Beklagte den Klägern eine Baugenehmigung im Widerspruch zu der zwischenzeitlich erfolgten Novellierung der Landesbauordnung – mit der Folge der Einbeziehung der Dachgauben in die Abstandsflächenberechnung – erteilen würde. Da die zweite Baugenehmigung bereits am 15.12.2010 erteilt worden sei, habe er (zu diesem Zeitpunkt) auch keine Kenntnis von Lichtbildern der teilweise hergestellten Dachgauben haben können, welche erst am 26.01.2011 zur Bauakte gelangt seien. Die Lichtbilder ließen zudem überhaupt keine Beurteilung zu, inwieweit Abstandsflächen eingehalten worden seien, zumal es um Abstandsflächenunterschreitungen von (nur) 29 bis 44 cm gehe. Seine Beeinträchtigung habe sich anhand des sichtbaren Baugeschehens nicht aufgedrängt. Die Kläger hätte im Übrigen auf eigenes Risiko mit dem Bau begonnen. Auch hätte eine Anfrage bei der Beklagten ihm keine Gewissheit verschafft, da die Beklagte damals noch an der Auffassung festgehalten habe, dass die Dachgauben nicht in die Abstandsflächenberechnung miteinzubeziehen seien. Zu berücksichtigen sei schließlich, dass die Kläger in ihrer Eigenschaft als Bauherren Fachleute wie Architekt und Vermessungsingenieur beauftragt hätten, die es offensichtlich bewusst oder aber grob fahrlässig unterlassen hätten, bei dem zweiten Bauantrag die Dachaufbauten in die Berechnung der Abstandsflächen miteinzubeziehen.

Dem Senat liegen die Akten der Beklagten (2 Ordner) sowie die Akten des Verwaltungsgerichts Stuttgart (2 Bände) vor. Darauf sowie auf die Senatsakten wird wegen weiterer Einzelheiten ergänzend Bezug genommen.

B.

Die Entscheidung über die Berufung des Klägers ergeht nach Anhörung der Beteiligten gemäß § 130a VwGO durch Beschluss, da der Senat die – statthafte und auch sonst zulässige – Berufung der Kläger einstimmig für begründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält.

Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen, soweit die baurechtliche Entscheidung der Beklagten vom 08.08.2013 dem Widerspruch des Beigeladenen vom 13.12.2012 (betreffend die Dachaufbauten in Richtung Südwest, zum H… Weg …) abhilft. Denn diesbezüglich ist die Klage zulässig und begründet.

I.

Zu Recht hat das Verwaltungsgericht die Zulässigkeit der Klage bejaht. Die Klage ist als Anfechtungsklage statthaft (§ 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO). Der Nachprüfung des Verwaltungsakts in einem Vorverfahren vor Erhebung der Anfechtungsklage bedurfte es nicht, da der Abhilfebescheid erstmalig eine Beschwer zu Lasten der Kläger enthält (§ 68 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 VwGO).

II.

Die Klage ist auch begründet, da der Teilabhilfebescheid der Beklagten vom 08.08.2013 in Bezug auf den Widerspruch des Beigeladenen (Dachaufbauten in Richtung Südwest, zum H… Weg …) rechtswidrig ist und die Kläger in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

1. Auf die von der Beklagten herangezogene Rechtsgrundlage in § 72 VwGO kann der angegriffene Teilabhilfebescheid in dem hier im Streit stehenden Umfang nicht gestützt werden. Nach dieser Vorschrift hilft die Behörde einem begründeten Widerspruch ab. Hierzu war die Beklagte indes im vorliegenden Fall nicht ermächtigt, da der Widerspruch des Beigeladenen, unabhängig davon, ob dieser mit seinen Einwendungen nach § 55 Abs. 2 Satz 2 LBO präkludiert war (1.), jedenfalls verspätet eingelegt und daher unzulässig war (2.).

a) Ob die Präklusionswirkung nach § 55 Abs. 2 Satz 2 LBO gegenüber dem Beigeladenen eingetreten war, mag hier dahinstehen.

Nach § 55 Abs. 1 Satz 1 LBO benachrichtigt die Gemeinde die Eigentümer angrenzender Grundstücke (Angrenzer) innerhalb von fünf Arbeitstagen ab dem Eingang der vollständigen Bauvorlagen von dem Bauvorhaben. Im vorliegenden Fall erfolgte indes die Angrenzerbenachrichtigung zu einem Zeitpunkt, als die Bauvorlagen noch nicht vollständig waren. Es fehlte der nach § 4 Abs. 4 Satz 1 Nr. 5 lit. d LBOVVO erforderliche (neue) Abstandsflächenplan zu dem Bauantrag vom 29./30.09.2010. Auch innerhalb der vier Wochen ab Zustellung der Angrenzerbenachrichtigung wurden die Bauvorlagen insoweit nicht vervollständigt. Erst mit Schreiben vom 17.08.2012, bei der Beklagten eingegangen am 28.08.2012, wurde ein zu diesem Baugesuch gehörender Abstandsflächenplan vorgelegt. Unter diesen Voraussetzungen könnte eine Präklusionswirkung nach § 55 Abs. 2 Satz 2 LBO zweifelhaft sein. Die erhebliche Eingriffswirkung dieser zu einem materiellen Rechtsverlust führenden Vorschrift erfordert nämlich von den Baurechtsbehörden und Gemeinden die exakte Einhaltung der entsprechenden zur materiellen Präklusion führenden Verfahrensvorgaben. Namentlich im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 und Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG tritt die Präklusion daher nicht ein, wenn das Verfahren fehlerhaft war (vgl. Senatsurteil vom 13.06.2018 – 8 S 1500/16 -, n.v.; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 01.08.2016 – 3 S 1082/16 -, BauR 2016, 1888 = juris Rn. 39 m.w.N.). Davon ist regelmäßig auch auszugehen, wenn die Bauvorlagen, die in der Gemeinde für eine Akteneinsicht während der laufenden Nachbarbeteiligung vorliegen, unvollständig sind und dadurch bereits eine mögliche (tatsächliche) Betroffenheit des Angrenzers nicht hinreichend deutlich erkennen lassen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 04.09.2002 – 5 S 1280/02 -, BauR 2003, 373 = juris Rn. 3 f.). Ob dies auch dann gilt, wenn die unterbliebenen Angaben allein für die Frage der rechtlichen, nicht aber der tatsächlichen Betroffenheit eines Angrenzers wesentlich sind, etwa wenn – wie hier – lediglich ein Abstandsflächenplan fehlt (bejahend VG Karlsruhe, Beschluss vom 05.07.1999 – 4 K 1109/99 -, juris; Gassner, in: Spannowsky/Uechtritz, BeckOK Bauordnungsrecht Baden-Württemberg, Stand 01.11.2019, § 55 LBO Rn. 58) erscheint im Hinblick auf die inhaltlich an Einwendungen zu stellenden Anforderungen (vgl. Sauter, LBO, 3. Aufl., Stand: September 2019, § 55 Rn. 36) fraglich. Hierfür ließe sich vorliegend immerhin anführen, dass der dem ersten Bauantrag beigefügte – und bis August 2012 der Behörde allein vorliegende – Abstandsflächenplan vom 22.02.2010 noch keinen Verstoß gegen abstandsflächenrechtliche Bestimmungen auswies (vgl. auch die hierzu ergangene Entscheidung VG Stuttgart, Beschluss vom 09.11.2010 – 13 K 3388/10 -), womit der unzutreffende Eindruck hervorgerufen werden konnte, abstandsflächenrechtlich relevante Änderungen lägen nicht vor. Darauf, ob und zu welchem Zeitpunkt beziehungsweise welchen Zeitpunkten der Beigeladene tatsächlich Einsicht in die Bauakten genommen beziehungsweise von deren Inhalt Kenntnis erlangt haben mag, kann es insoweit freilich nicht ankommen (anders Gassner, a.a.O., § 55 LBO Rn. 58). Die Präklusion muss an enge, formalisierte Voraussetzungen geknüpft sein. Ihre Verbindung mit einer tatsächlichen Akteneinsicht würde hingegen nicht hinnehmbare Unsicherheiten schaffen, da zum einen eine Protokollierung erfolgter Einsichtnahmen nicht vorgeschrieben ist und zum anderen die Kenntnis über den Inhalt der Bauakten einzelnen Angrenzern auch durch Dritte vermittelt worden sein kann (z.B. durch mündlichen Bericht, Lichtbilder oder Kopien).

b) Anders als das Verwaltungsgericht angenommen hat, hat der Beigeladene seinen Widerspruch jedenfalls nicht rechtzeitig erhoben.

Ist einem Nachbarn – wie hier dem Beigeladenen – die Baugenehmigung, durch die er sich beschwert fühlt, nicht amtlich bekanntgegeben worden, so läuft für ihn weder in unmittelbarer noch in analoger Anwendung der §§ 70 und 58 Abs. 2 VwGO eine Widerspruchsfrist (vgl. BVerwG, Urteil vom 25.01.1974 – IV C 2.72 -, BVerwGE 44, 294 = juris Rn. 20 ff.). Hat der Grenznachbar von der erteilten Baugenehmigung auf andere Weise zuverlässig Kenntnis erlangt, so muss er sich indes in aller Regel nach Treu und Glauben bezüglich der Widerspruchseinlegung so behandeln lassen, als sei ihm die Baugenehmigung im Zeitpunkt der zuverlässigen Kenntniserlangung amtlich bekanntgegeben worden. Gleiches gilt nach Treu und Glauben regelmäßig für den Fall, dass der Nachbar von der Baugenehmigung zuverlässige Kenntnis hätte haben müssen, weil sich ihm das Vorliegen der Baugenehmigung aufdrängen musste und es ihm möglich und zumutbar war, sich hierüber – etwa durch Anfrage bei dem Bauherrn oder der Baugenehmigungsbehörde – Gewissheit zu verschaffen (vgl. BVerwG, Urteil vom 25.01.1974, a.a.O., juris Rn. 25; vgl. auch Senatsurteile vom 28.08.1987 – 8 S 1345/87 -, NVwZ 1989, 76, und vom 14.12.2017 – 8 S 1148/16 -, juris Rn. 23; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 14.05.2012 – 10 S 2693/09 -, VBlBW 2012, 431).

Von einer zuverlässigen Kenntnis(möglichkeit) im genannten Sinne ist das Verwaltungsgericht im vorliegenden Fall erst (frühestens) für den Zeitpunkt ausgegangen, zu dem der nach § 4 Abs. 4 Satz 1 Nr. 5 lit. d LBOVVO erforderliche Abstandsflächenplan zu den Akten der Beklagten gelangte (28.08.2012) und damit der Verstoß gegen abstandsflächenrechtliche Bestimmungen deutlich wurde.

Dem folgt der Senat nicht. Zwar waren erst von diesem Zeitpunkt an die Bauvorlagen vollständig und mag es zutreffen, dass der Beigeladene erst dadurch eine zuverlässige Information über die (genauen) abstandsflächenrechtlichen Auswirkungen des Vorhabens der Kläger erhielt. Gleichwohl war die Einlegung des Widerspruchs des Beigeladenen erst am 14.12.2012 nicht mehr rechtzeitig. Insofern kommt es nicht darauf an, ob der Beigeladene womöglich bereits früher von einer Baugenehmigung Kenntnis hatte, weil das Regierungspräsidium Stuttgart gegenüber der Beklagten schon im Jahre 2011 Bedenken gegen die Einhaltung des Abstandsflächenrechts angemeldet hatte (vgl. vor allem das Schreiben des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 03.06.2011). Denn jedenfalls zeigen Lichtbilder vom 26.01.2011, dass die Dachgauben bereits (spätestens) zu diesem Zeitpunkt so weit hergestellt waren, dass der Beigeladene von einer Änderungsbaugenehmigung Kenntnis haben und dies zum Anlass nehmen musste, von diesem Zeitpunkt an spätestens innerhalb eines Jahres Widerspruch einzulegen, um seine Rechte zu wahren. Demgegenüber kann er sich nicht darauf berufen, er sei durch vermeintlich irreführende oder fehlende Unterlagen von einer Widerspruchseinlegung abgehalten worden, denn darauf hätte er sich auch bei einer Bekanntgabe der Baugenehmigung an ihn nicht berufen können. Unter diesen Umständen durfte die Beklagte dem Widerspruch des Beigeladenen nicht nach § 72 VwGO zu Lasten der Kläger abhelfen (vgl. BVerwG, Urteil vom 04.08.1982 – 4 C 42.79 -, NVwZ 1983, 285 = juris Rn. 12 ff.; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 10.12.2015 – 2 S 1516/14 -, VBlBW 2016, 205 = juris Rn. 83).

Entgegen der Annahme der Beklagten wäre es im Übrigen keineswegs widersprüchlich, einerseits den Eintritt einer Präklusion nach § 55 Abs. 2 Satz 2 LBO zu verneinen, andererseits aber den Widerspruch des Beigeladenen als verspätet anzusehen, obwohl er noch binnen eines Jahres nach Ergänzung der Bauvorlagen um einen zunächst nicht beigefügten (neuen) Abstandsflächenplan eingelegt wurde. Die Zumutbarkeit der Widerspruchseinlegung durch den Grenznachbarn nach den Grundsätzen von Treu und Glauben – und die zeitliche Begrenzung der Möglichkeit zur Widerspruchserhebung – folgt anderen Regeln als der Einwendungsausschluss des § 55 LBO. In aller Regel ist der Nachbar gehalten, seinen Widerspruch dann binnen eines Jahres zu erheben, wenn sich ihm das Vorliegen der Baugenehmigung (als solcher) aufdrängen musste. Dies gilt grundsätzlich unabhängig davon, ob die der Erteilung der Baugenehmigung zugrundeliegenden Bauvorlagen vollständig waren. Gerade die gegenteilige Ansicht würde auf einen Wertungswiderspruch führen, denn auch bei einer Bekanntgabe der Baugenehmigung gemäß § 41 LVwVfG wäre der Lauf der (dann geltenden) Widerspruchsfrist (von einem Monat, vgl. § 70 Abs. 1 Satz 1 VwGO) nicht davon abhängig gewesen, ob die Bauvorlagen vollständig gewesen wären. Schon gar nicht kann es darauf ankommen, ob die Bauvorlagen der aktuellen Rechtslage Rechnung trugen. Denn dies bedeutete letztlich, den Beginn der Widerspruchsfrist von Fragen der Begründetheit abhängig zu machen.

Auch ein Grund, der sonst eine Wiedereinsetzung (§ 70 Abs. 2 i.V.m. § 60 VwGO) hätte rechtfertigen können, lässt sich aus der Unvollständigkeit oder einer möglichen Unkorrektheit der Bauvorlagen nicht herleiten. Ein Irrtum über die Erfolgsaussichten eines Rechtsbehelfs stellte keine Verhinderung an dessen rechtzeitiger Einlegung dar (vgl. NdsOVG, Beschluss vom 20.11.2007 – 2 LA 626/07 -, NVwZ-RR 2008, 356 = juris Rn. 6; Czybulka/Kluckert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 60 Rn. 37), auch wenn der Irrtum durch Fehler in den Antragsunterlagen (mit-)verursacht sein mag. Es wäre der Rechtssicherheit in einem nicht hinnehmbaren Maße abträglich, wenn die Bestandskraft eines Verwaltungsakts allein dadurch in Frage gestellt werden könnte, dass der Betroffene sich auf einen nicht erkennbaren oder unverschuldet nicht erkannten Mangel des Verwaltungsakts beruft. Sinn der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist es, denjenigen von den Folgen der Fristversäumnis zu verschonen, der die Rechtsmittelfrist nicht einhalten k o n n t e , nicht aber denjenigen, der ein Rechtsmittel nicht einlegen w o l l t e ; sie dient nicht dazu, dem Betroffenen die Geltendmachung nachträglich entdeckter Fehler zu ermöglichen, auch wenn die Unkenntnis von der Fehlerhaftigkeit des Verwaltungsakts auf einem nicht verschuldeten Irrtum beruhte (BVerwG, Beschluss vom 15.03.1989 – 7 B 40.89 -, NVwZ-RR 1989, 591 = juris Rn. 5).

Soweit die Beklagte schließlich meint, auf eine verspätete Widerspruchserhebung des Beigeladenen könne es nicht ankommen, weil die Baugenehmigung vom 15.12.2010 von einem anderen Nachbarn fristgerecht angegriffen worden und das Bauvorhaben nicht teilbar sei, geht dies fehl. Der Senat muss nicht entscheiden, ob das Bauvorhaben der Kläger beziehungsweise die auf ihr Baugesuch ergangene Genehmigung (zumindest in gewisser Hinsicht, etwa bezogen auf die Dachgestaltung) tatsächlich und rechtlich teilbar ist (vgl. hierzu VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 20.09.2016 – 11 S 2070/14 -, VBlBW 2017, 284 = juris Rn. 53 m.w.N.) und welche Folgen eine mögliche Unteilbarkeit mit Blick auf fristgerechte Rechtsbehelfe haben mag, die sich lediglich gegen Teile des Vorhabens richten. Denn die formelle Bestandskraft (Unanfechtbarkeit) der Genehmigung vom 15.12.2010, die im vorliegenden Fall eine Abhilfe zugunsten des Beigeladenen hindert, ist personell auf diesen bezogen und trat unabhängig davon ein, wie sich die Rechtsbehelfe Dritter auswirken mögen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 04.07.2012 – 9 VR 6.12 -, NVwZ 2012, 1126 = juris Rn. 10; Ramsauer, in: Kopp/Ramsauer, VwVfG, 20. Aufl. 2019, § 43 Rn. 29).

2. Die Abhilfeentscheidung zugunsten des Beigeladenen erweist sich auch nicht auf anderer Rechtsgrundlage als rechtmäßig.

Weder ein Austausch der Rechtsgrundlage noch eine Umdeutung im Sinne von § 47 LVwVfG (vgl. zur Abgrenzung Schulz, in: Mann/Sennekamp/Uechtritz, VwVfG, 2. Aufl. 2019, § 47 Rn. 23; zur gerichtlichen Umdeutungskompetenz bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen BVerwG, Urteil vom 16.11.2015 – 1 C 4.15 -, BVerwGE 153, 234 = juris Rn. 30; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 16.09.2008 – 10 S 2925/06 -, VRS 115, Nr. 117 = juris Rn. 28) könnten hier dazu führen, dass die Entscheidung vom 08.08.2013 aufrechterhalten werden kann. Zwar kann nach § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Ein Verwaltungsakt, der – wie hier – ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), darf dabei nur unter den Einschränkungen der § 48 Abs. 2 bis 4 LVwVfG zurückgenommen werden (§ 48 Abs. 1 Satz 2 LVwVfG). Eine solche Rücknahmeentscheidung entsprach indes ersichtlich nicht dem Willen und den Erwägungen der Beklagten (vgl. zum Verhältnis von § 48 LVwVfG und § 72 VwGO zuletzt VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 30.11.2018 – 5 S 854/17 -, VBlBW 2019, 247 ff.), zumal ein Anspruch des Beigeladenen auf Rücknahme der ihm gegenüber bestandskräftigen Baugenehmigung nur in Betracht käme, wenn deren Aufrechterhaltung ihm gegenüber – was im vorliegenden Fall fernliegt – „schlechthin unerträglich“ erschiene (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.01.2007 – 6 C 32.06 -, NVwZ 2007, 709, 710 m.w.N.; Senatsbeschluss vom 13.01.2020 – 8 S 36/19 -, BA S. 5). Unter diesen Umständen scheidet auch eine Umdeutung aus (vgl. BVerwG, Urteil vom 01.07.1999 – 4 C 23.97 -, NVwZ 2000, 195 = juris Rn. 27 ff.; Funke-Kaiser, in: Bader u.a., VwGO, 7. Aufl. 2018, § 72 Rn. 5).

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 und Abs. 3, § 155 Abs. 1 Satz 1, § 159 Satz 2, § 162 Abs. 3 VwGO.

Die Festsetzung des Streitwerts des Berufungsverfahrens folgt aus § 47 Abs. 1 Satz 1, § 52 Abs. 2 GKG. Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keiner der Gründe des § 132 Abs. 2 VwGO gegeben ist.

Die Streitwertfestsetzung ist unanfechtbar (vgl. § 152 Abs. 1 VwGO).

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