VG Kassel – Az.: 2 L 2713/19.KS – Beschluss vom 10.12.2019
1. Die Gewährung vorläufigen Rechtschutzes wird abgelehnt.
2. Die Antragsteller haben die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu tragen.
3. Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 7.500 € festgesetzt.
Gründe
Der Antrag der Antragsteller vom 4. November 2019, mit denen diese sinngemäß beantragen: die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 11. September 2019 gegen die der Beigeladenen durch den Antragsgegner erteilte Baugenehmigung vom 23. November 2018 anzuordnen, bleibt ohne Erfolg.
Eingangs ist – im Hinblick auf das Schreiben des Bevollmächtigten der Beigeladenen – klarzustellen, dass die Baugenehmigung BA….-..-.. vom 23. Nov. 2018 für die Errichtung eines Mehrfamilienwohnhauses mit 3 Pkw-Garagen und 2 Carports auf dem Grundstück in A-Stadt, A-Straße, Gemarkung X., Flur 9, Flurstück 234/1, 234, 234, 233 streitgegenständlich ist.
Die Antragsteller haben keinen Anspruch auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs gegen die der Beigeladenen durch den Antragsgegner erteilte Baugenehmigung, weil ihnen insoweit das notwendige Rechtsschutzbedürfnis fehlt.
Den gerichtlichen Prüfungsmaßstab für dieses Begehren bildet § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO, der über § 80a Abs. 3 S. 2 VwGO anwendbar ist. Danach kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung in den Fällen des Absatzes 2 S. 1 Nr. 1 bis 3 – Entfallen der aufschiebenden Wirkung kraft Gesetzes – ganz oder teilweise anordnen, im Fall des Absatzes 2 S. 1 Nr. 4 – Entfallen der aufschiebenden Wirkung kraft behördlicher Anordnung – ganz oder teilweise wiederherstellen. Die hiernach vom Gericht zu treffende Entscheidung stellt eine Ermessensentscheidung dar, die unter Abwägung der Interessen der Beteiligten erfolgt.
Entfällt die aufschiebende Wirkung kraft Gesetzes, hängt die Begründetheit des dann statthaften Antrags nach § 80 Abs. 5 S. 1, 1. Alt. VwGO allein von der vom Gericht vorzunehmenden Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse am Vollzug der im Verwaltungsakt getroffenen Regelung, dem sogenannten Vollziehungsinteresse, und dem Aussetzungsinteresse des Antragstellers ab.
Entfällt eine gesetzlich vorgesehene aufschiebende Wirkung erst kraft behördlicher Anordnung nach § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4, Abs. 3 VwGO, kann sich die Begründetheit des dann einschlägigen Antrags nach § 80 Abs. 5 S. 1, 2. Alt. VwGO neben der auch hier vorzunehmenden gerichtlichen Interessenabwägung zudem aus einer formellen Fehlerhaftigkeit der behördlichen Vollziehungsanordnung ergeben.
Die Interessenabwägung durch das Gericht richtet sich in erster Linie nach den Erfolgsaussichten in der Hauptsache. Erweist sich der Verwaltungsakt bei der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren grundsätzlich allein gebotenen summarischen Prüfung als rechtswidrig, so ist einem Antrag nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO stattzugeben, weil an der Vollziehung eines rechtswidrigen Verwaltungsakts kein überwiegendes öffentliches Interesse bestehen kann.
Stellt sich der Verwaltungsakt nach dem Erkenntnisstand des Eilverfahrens hingegen als rechtmäßig dar, ist weiter danach zu differenzieren, ob der Antrag nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO einen Verwaltungsakt betrifft, dessen sofortige Vollziehbarkeit kraft Gesetzes oder (erst) aufgrund behördlicher Anordnung besteht. Im ersten Fall, dem Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung, ist das Eilrechtsschutzgesuch bei Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts in der Regel unbegründet, da regelmäßig das öffentliche Vollziehungsinteresse überwiegt. Dies ergibt sich daraus, dass in den Fällen des gesetzlichen Ausschlusses der aufschiebenden Wirkung der Gesetzgeber selbst einen grundsätzlichen Vorrang des Vollzugsinteresses angeordnet hat und es deshalb besonderer Umstände bedarf, um eine hiervon abweichende Entscheidung zu rechtfertigen.
Im zweiten Fall, dem Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung, reicht demgegenüber mangels gesetzlicher Anordnung des Entfallens der aufschiebenden Wirkung die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts allein zur Begründung eines überwiegenden öffentlichen Vollziehungsinteresses nicht aus. Da hier nach der Gesetzeslage die aufschiebende Wirkung der Regelfall ist, ist zur Begründung eines überwiegenden öffentlichen Vollziehungsinteresses zusätzlich zur Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts eine besondere Dringlichkeit seiner Vollziehung, das sogenannte besondere Vollzugsinteresse, erforderlich.
Lässt sich bei summarischer Prüfung weder die Rechtmäßigkeit noch die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts feststellen, so ist eine von den Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens unabhängige Interessenabwägung vorzunehmen. Auch hierbei schlägt mit erheblichem Gewicht zu Buche, ob nach der Gesetzeslage einem eingelegten Rechtsbehelf aufschiebende Wirkung zukommt oder nicht.
Vorliegend ist durch § 212a Abs. 1 BauGB angeordnet, dass Widerspruch und Anfechtungsklage eines Dritten gegen die bauaufsichtliche Zulassung eines Vorhabens keine aufschiebende Wirkung haben, so dass ein Fall des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 VwGO vorliegt, das Gericht im Obsiegensfall mithin die aufschiebende Wirkung gem. § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO anzuordnen hätte.
In Verfahren wie dem vorliegenden, denen eine Drittanfechtungssituation im nachbarlichen Verhältnis zugrunde liegt, ist rechtsschutzlimitierend zu beachten, dass sich ein Antragsteller nur auf solche Rechtsverletzungen berufen kann, für die ihm eine drittschützende Norm zur Seite steht.
Eine einem Dritten erteilte Baugenehmigung verletzt den Nachbarn nur dann in eigenen Rechten, wenn
1. ein genehmigtes Vorhaben gegen Vorschriften des öffentlichen Rechts verstößt, die in dem entsprechenden Baugenehmigungsverfahren zu prüfen sind,
2. die Voraussetzungen für eine Abweichung, Ausnahme oder Befreiung nicht vorliegen,
3. die verletzte Vorschrift auch dem Schutze des Nachbarn zu dienen bestimmt ist, also nachbarschützenden Charakter hat und
4. durch das rechtswidrige Vorhaben eine tatsächliche Beeinträchtigung des Nachbarn hinsichtlich der durch die Vorschriften geschützten nachbarlichen Belange eintritt.
Voraussetzung für den Erfolg eines Antrags auf vorläufigen gerichtlichen Rechtsschutz gem. § 80a Abs. 3 i.V.m. § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO ist weiterhin, dass die erstrebte Maßnahme (noch) notwendig oder geeignet ist, um mögliche Rechte eines Antragstellers zu sichern. Diese Voraussetzung ist regelmäßig dann nicht gegeben, wenn das Bauvorhaben schon fertiggestellt ist und der Bauherr somit von der ihm erteilten Baugenehmigung bereits umfassend Gebrauch gemacht hat (vgl. VG Kassel, Beschl. v. 23.08.2019 – 2 L 1903/19.KS n.v.; v. 30.08.2017 – 2 L 4705/17.KS, n.v.; v. 18.04.2007 – 2 G 546/07, n.v., u. v. 06.05.2011 – 2 L 331/11.KS, n.v.). Denn das mit der Anordnung der aufschiebenden Wirkung verfolgte Ziel, die Schaffung vollendeter Tatsachen zu verhindern, ist nach Fertigstellung der baulichen Anlage insoweit nicht mehr zu erreichen. Ausreichend ist insoweit die Fertigstellung des Rohbaus (vgl.BayVGH, Beschl. v. 12.08.2010 – 2 CS 10.20, juris Rn. 2). Ebendies ist hier der Fall, da das im Genehmigungsverfahren mit der angefochtenen Baugenehmigung des Antragsgegners vom 23. November 2018 genehmigte Mehrfamilien-Wohngebäude im Rohbau bereits vollständig errichtet worden ist. Mit hieran anknüpfenden Einwendungen können die Antragsteller im vorliegenden Verfahren nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO folglich nicht durchdringen.
Soweit die Antragsteller die Fertigstellung des Rohbaus bestreiten, ergibt sich aus den dem Gericht vorliegenden Lichtbildern zweifelsfrei, dass das genehmigte Mehrfamilien-Wohngebäude im Rohbau bereits vollständig errichtet worden ist. Die Kammer war auf Basis der aussagekräftigen Aktenlage auch nicht verpflichtet, sich vor Ort ein Bild von den Verhältnissen zu machen. Irrelevant ist es dabei, ob die Dachkonstruktion bereits abgeschlossen ist. Dieser kommt im Hinblick auf die für eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots allein maßgebliche äußere Erscheinung des Gebäudes lediglich untergeordnete Bedeutung zu, weil es sich um eine äußerst flache Dachkonstruktion handelt, die das äußere Erscheinungsbild nur noch unerheblich verändert.
Die von den Antragstellern in Bezug genommene Entscheidung des Thüringischen Oberverwaltungsgerichts (Beschl. 09.09.1994 – 1 S 259/94, NVwZ-RR 1995, S. 251, ähnlich: Schoch, in: Schoch/ Schneider/Bier, VwGO, 37. EL Juli 2019, § 80a Rn. 67) rechtfertigt keine andere Entscheidung. Sofern das Obergericht den für den Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses maßgeblichen Zeitpunkt – im Hinblick auf die weiteren Ausbaukosten – von der Rohbau- auf die Bezugsfertigkeit verlagern will, kann dem schon deshalb nicht gefolgt werden, weil das Eilverfahren nicht dazu bestimmt ist, die Chancen für eine etwaige Rückbauverpflichtung zu erhöhen. Im Übrigen gilt es zu beachten, dass der Bauherr auf eigenes finanzielles Risiko handelt, wenn er trotz der Angriffe des Nachbarn das Bauvorhaben weiterführt und fertig stellt. Einer Rückbauverfügung könnte er damit nicht entgegenhalten, dies sei ihm aus finanziellen Gründen jedenfalls aufgrund der Fertigstellung des Vorhabens nicht (mehr) zumutbar (überzeugend NdsOVG, Beschl. v. 22.10.2008 – 1 ME 134/08, juris Rn. 5).
Die von den Antragstellern in Bezug genommenen Entscheidungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (Beschl. v. 27.08.2014 – 9 CS 14.1404, juris) und des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg (Beschl. 10.04.2018 – 10 S 40.17, juris) gehen in Übereinstimmung mit der Kammerrechtsprechung davon aus, dass die Rohbaufertigstellung regelmäßig zum Entfall des Rechtsschutzbedürfnis führt.
Soweit sich die Antragsteller durch die Nutzung der genehmigten Anlage verletzt sehen, kann diese mögliche Rechtsverletzung grundsätzlich auch nach der Fertigstellung mit der Anordnung der aufschiebenden Wirkung noch verbessert werden, mit der Folge, dass das Rechtsschutzbedürfnis für den einstweiligen Rechtsschutz insoweit grundsätzlich fortbesteht (Dirnberger, in: Simon/Busse, BayBO, 134. EL August 2019, Art. 66 Rn. 611 sowie die von den Antragstellern in Bezug genommenen Entscheidungen OVG Ber-Bra, Beschl. 10.04.2018 – 10 S 40.17, juris u. BayVGH, Beschl. v. 27.08.2014 – 9 CS 14.1404, juris). Das Interesse des Nachbarn ist in dieser Situation darauf gerichtet, die vorzeitige Aufnahme oder Fortsetzung der Nutzung der baulichen Anlage bis zur abschließenden Entscheidung in der Hauptsache zu verhindern. Richtet sich das nachbarliche Interesse in dieser Weise auf eine – vorbeugende – Nutzungsuntersagung, ist im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes indessen auch das Interesse des Bauherrn an der einstweiligen Aufnahme bzw. Weiterführung der genehmigten Nutzung zu berücksichtigen mit der Folge, dass den Nachbarn, jedenfalls vorübergehend bis zur Entscheidung in der Hauptsache, die mit der Nutzung einhergehenden Beeinträchtigungen zuzumuten sein können. Nur wenn diese Beeinträchtigungen erkennbar und erheblich über das Maß dessen hinausgehen, was die Nachbarn letztlich hinzunehmen haben werden, ist es gerechtfertigt, bereits vor der Entscheidung in der Hauptsache die Nutzung der baulichen Anlage im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes zu unterbinden (vgl. BayVGH, Beschl. v. 12.08.2010 – 2 CS 10.20, juris Rn. 3 m.w.N.).
Die Antragsteller stützen ihr Begehren insoweit auf die Beeinträchtigungen, welche von der Nutzung des Mehrfamilienhauses mit sechs Wohneinheiten (zukünftig) ausgehen. Diese Beeinträchtigungen rechtfertigen jedoch nicht die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs. Insoweit sind die mit der Nutzung einhergehenden Beeinträchtigungen (jedenfalls) bis zum Abschluss eines Hauptsacheverfahrens zumutbar. Eine unzumutbare Beeinträchtigung geht von der Nutzung ausschließlich zu Wohnzwecken genutzter Bauten regelmäßig nicht aus. Die Zumutbarkeit ist grundsätzlich nur in Zweifel zu ziehen, wenn etwa von der Nutzung erheblich Emissionen ausgehen, wie es bei Schweinemastbetrieben o.ä. der Fall sein kann (VG Kassel, Beschl. v. 23.08.2019 – 2 L 1903/19.KS n.v. in Bezug auf ein Mehrfamilienhaus mit elf Wohneinheiten).
Unter Beachtung des Vorstehenden war das Gericht auch nicht gehalten, der von dem Antragstellervertreter angeregten Beweiserhebung durch Einholung eines Sachverständigengutachtens in Bezug auf die parkbedingten Lärmemissionen nachzugehen.
Schließlich dürfte es sich bei der Frage der Anordnung der Parkflächen auch um einen abtrennbaren und isoliert regelbaren Gegenstand handeln, der sich – jedenfalls nicht zwingend – auf das Schicksal der Baugenehmigung insgesamt auswirken muss (ähnlich Dirnberger, in: Simon/Busse, BayBO, 134. EL August 2019, Art. 66 Rn. 612), so dass mit dieser Argumentation die Vollziehbarkeit der der Beigeladenen erteilten Baugenehmigung nicht in Zweifel gezogen werden kann.
Die Antragsteller haben gem. § 154 Abs. 1, § 159 VwGO die Kosten des Verfahrens zu tragen, da ihr Begehren erfolglos geblieben ist. Die entstandene außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen waren der unterliegenden Partei aufzuerlegen, da sie sich am Verfahren beteiligt – insbesondere eigenen Anträge gestellt – und sich damit auch einem Kostenrisiko ausgesetzt hat, § 162 Abs. 3, § 154 Abs. 3 VwGO.
Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 52 Abs. 1, § 53 Abs. 3 Nr. 1 u. 2 GKG i.V.m. Nr. 9.7.1 des Streitwertkataloges. Danach ist der Streitwert bei Klagen eines drittbetroffenen Nachbarn mit 7.500,– € bis 15.000,– € zu bemessen, soweit nicht ein höherer wirtschaftlicher Schaden feststellbar ist. Angesichts des Umfangs des Bauvorhabens und des Gewichts der von den Antragstellern hiergegen vorgebrachten Einwände hat das Gericht diesen Rahmen nach oben ausgeschöpft. Aufgrund des nur vorläufigen Charakters des Eilverfahrens waren von dem damit für das Hauptsacheverfahren maßgeblichen Streitwert von 15.000,– € gem. Nr. 1.5 des Streitwertkataloges lediglich 50 % in Ansatz zu bringen.