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Baugenehmigung – Widerspruchsfrist Nachbar

Nachbarschaftskonflikt: Ablehnung der Klage gegen eine Baugenehmigung zur Errichtung eines Logistikzentrums

Das Verwaltungsgericht Berlin hat in einem kürzlich gefällten Urteil (Az.: 19 K 543.17 vom 28.05.2020) über einen Nachbarschaftsstreit entschieden, in dessen Mittelpunkt eine Baugenehmigung zur Errichtung eines Logistikzentrums stand. Im konkreten Fall hatte die Klägerin gegen Teile der Baugenehmigung Widerspruch eingelegt, insbesondere bezüglich der Lkw-Anlieferung und der daraus resultierenden Lärmimmissionen. Sie argumentierte, dass die Baugenehmigung ihr nicht offiziell bekannt gegeben wurde und dass sie deshalb ihre Rechte als Nachbarin nicht ausreichend wahrnehmen konnte.

Weiter zum vorliegenden Urteil Az.: 19 K 543.17 >>>

Geltendmachung der Nachbarrechte

Trotz der Klage der Nachbarin, entschied das Gericht, dass die Baugenehmigung und das daraus resultierende Bauvorhaben – einschließlich der Lkw-Anlieferungen – für sie erkennbar gewesen seien. Die konkrete Ausgestaltung des Anlieferungsregimes und die Anzahl der damit zugelassenen Fahrten sei nicht so atypisch gewesen, dass sie damit nicht hätte rechnen müssen. Dies galt auch für den Standort der Lkw-Abwicklung. Das Gericht stellte auch fest, dass die Klägerin keine Erkundigungspflicht hinsichtlich Aspekte des Bauvorhabens habe, die für sie nicht ersichtlich seien.

Kenntnis des Bauvorhabens als Ausgangspunkt

Das Gericht wies darauf hin, dass es für den Beginn der Widerspruchsfrist nicht notwendig sei, dass das Bauvorhaben in allen Einzelheiten bekannt oder vorhersehbar ist. Allein die Kenntnis von einem in seinen wesentlichen Umrissen bekannten Vorhaben begründe bereits die Pflicht des Nachbarn, sich zeitnah über das Bestehen und die Geltendmachung seiner Nachbarrechte zu vergewissern. In diesem Sinne hätte die Klägerin beachtliche Auswirkungen des Bauvorhabens auf ihr Grundstück erwarten müssen.

Ablehnung der Klage: Keine Überraschungselemente

Würde man das anders sehen und entgegen der Klägerin annehmen, dass für sie weder die Zufahrtsführung noch die Anordnung eines Warteplatzes vor ihrem Grundstück ohne Kenntnis der Bauunterlagen vorhersehbar waren, so würde dies den Beginn der Frist im Oktober 2015 nicht behindern. Darüber hinaus wies das Gericht darauf hin, dass die Standorte von Zufahrt und Warteplatz nicht völlig überraschend geregelt waren.

Schlusswort: Baugenehmigung und Nachbarrechte

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden, dass die Klage abgewiesen wird. Die Baugenehmigung wurde rechtmäßig erteilt und die Einwände der Nachbarin konnten das Gericht nicht überzeugen. Damit wurde klargestellt, dass Nachbarn ihre Rechte zeitnah geltend machen müssen, sobald sie Kenntnis von einem Bauvorhaben haben, das ihre Nachbarschaftsrechte beeinträchtigen könnte.


Das vorliegende Urteil

VG Berlin – Az.: 19 K 543.17 – Urteil vom 28.05.2020

Die Klage wird abgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Klägerin wird nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger zuvor Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand

Die Klägerin wendet sich gegen Teile einer der Beigeladenen erteilten Baugenehmigung zur Errichtung eines Logistikzentrums.

Die Klägerin ist Eigentümerin des Grundstücks mit der Anschrift am J… 10 in Berlin-Spandau (Gemarkung Gewehrplan und Pulverfabrik, Flur 2, Flurstück 2…). Dieses Grundstück ist mit einem Autohaus einschließlich großem verglastem Ausstellungsraum bebaut, in dem die Mieterin der Klägerin Fahrzeuge ausstellt und vertreibt. Das Grundstück grenzt südlich, westlich und nördlich an im Eigentum der Beigeladenen stehenden Flurstücke (mit der postalischen Anschrift A…). Erschlossen wird das Grundstück der Klägerin über die im Eigentum der Beigeladenen stehende südlich bzw. westlich ihres Grundstücks gelegenen Flurstücke 2… und 2…was unter anderem über eine Baulast abgesichert ist.

Der Baunutzungsplan für Berlin 1958/60 in der Fassung vom 28. Dezember 1960 (ABl. Bln 1961 S. 742) weist den Nahbereich, in dem die Grundstücke liegen, teilweise als reines Arbeitsgebiet, teilweise als Nichtbaugebiet aus. Es gilt ferner der Bebauungsplan VIII-B1a vom 21. April 1988 (GVBl. S. 719), der die Baugrundstücksflächen, die als reine Arbeitsgebiete bzw. Nichtbaugebiete ausgewiesen sind, als Industriegebiet nach der Baunutzungsverordnung 1977 festsetzt.

Die Bebauung ist im Automatisierten Liegenschaftskatasterinformationssystem wie folgt erfasst (das Grundstück der Klägerin kennzeichnet eine Kreismarkierung):

………….Abbildung …………………

Mit Bescheid vom 9. Oktober 2015 (Nr. 2015/355) erteilte das Bezirksamt Spandau von Berlin (im Folgenden: Bezirksamt) der Beigeladenen eine Baugenehmigung zur Errichtung eines Versorgungszentrums, eines Hochregallagers und einer Routenzugbrücke für ein B…-Werk, in dem Motorräder produziert werden. Dessen Realisierung sollte auf den Flurstücken 3…, 3…, 9…, 9…,1…, 1…, 2…-2…, 2…-2… sowie 2…/2… erfolgen. Die Herstellungskosten wurden in den Bauvorlagen mit rund 28 Millionen Euro angegeben. Auf dem Vorhabengrundstück sind laut grün gestempelter Betriebsbeschreibung zehn Lkw-Be- und Entladeplätze vorgesehen sowie 13 Standplätze für die auf die Be- oder Entladung wartenden Lkw. Ein weiterer Lkw-Warteplatz ist auf dem Flurstück 2… direkt südlich des auf dem Grundstück der Klägerin aufstehenden Autohauses genehmigt (s. S. 10 der Betriebsbeschreibung). Die Baugenehmigung enthält schalltechnische Nebenbestimmungen insbesondere bezüglich der Lkw-Anlieferung, nach denen tags wie nachts an bestimmten Immissionsorten im Einzelnen vorgegebene Beurteilungspegel einzuhalten sind und die Anzahl der Lkw-Anlieferungen vor allem in den Nachtstunden begrenzt wird.

Die Baugenehmigung wurde der Klägerin zunächst nicht amtlich bekannt gegeben.

Mit Schreiben vom 22. Oktober 2015 zeigte die Beigeladene dem Bezirksamt den Baubeginn für den 16. November 2015 an. Nachdem sie bereits am 7. Oktober 2015 ein Baustellenschild aufgestellt und für die Gründung des Gebäudes des Versorgungszentrums eine ca. 30 m hohe Ramme aufgebaut hatte, begannen im Dezember 2015 die bauvorbereitenden Maßnahmen. So erfolgte am 8. Dezember 2015 die Auffüllung des Baufeldes; am 20. Dezember 2015 begannen die Tiefgründungsarbeiten.

Mit Schreiben vom 23. Dezember 2016, beim Bezirksamt eingegangen am 27. Dezember 2016, meldete sich die Klägerin beim Bezirksamt. Sie teilte darin mit, Kenntnis von der Baugenehmigung erhalten zu haben und bat um Übersendung unter anderem von Kopien dieser Baugenehmigung nebst grün gestempelter Pläne, aus denen sich die Auswirkungen auf ihre Nachbarbelange ergeben können, insbesondere hinsichtlich Lage und Details der Zufahrt unmittelbar vor ihrem Grundstück.

Darauf übermittelte das Bezirksamt der Klägerin die angefragte Baugenehmigung mit E-Mail vom 3. Februar 2017.

Mit Schreiben vom 21. Februar 2017 erhob die Klägerin Widerspruch gegen die Baugenehmigung, soweit damit eine Lkw-Zufahrt bzw. ein Lkw-Warteplatz unmittelbar an der südlichen Grundstücksgrenze ihres Grundstücks zugelassen werde sowie dem Be- und Entladeplatz an der Ostseite des Versorgungszentrums. Hilfsweise beantragte sie ein bauaufsichtliches Einschreiten der Behörde durch Untersagung der Nutzung dieses Grundstücksteils als Zufahrt bzw. Warteplatz für Lkw. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus, die mit dem Widerspruch angegriffenen Bestandteile der Baugenehmigung verletzten sie in ihren Rechten, weil mit dem Lkw-Verkehr – es seien immerhin bis zu 130 Lkw pro Tag zu erwarten – unzumutbare Lärmbelästigungen einhergingen, die das von der Beigeladenen in Auftrag gegebene Schallgutachten zum Teil überhaupt nicht untersucht habe. Ihr Autohaus sei als gewerbliches Vorhaben, das Publikumsverkehr habe und auch über Büros verfüge, nicht minder schutzwürdig als die angrenzende Wohnnutzung.

Mit Bescheid vom 3. Juli 2017 wies das Bezirksamt den Widerspruch als unbegründet zurück. Eine Nachbarrechtsverletzung sei nicht zu erkennen.

Mit ihrer hiergegen am 29. Juli 2017 erhobenen Klage wendet sich die Klägerin weiter gegen die der Beigeladenen erteilten Baugenehmigung, soweit damit eine Lkw-Zufahrt bzw. ein Lkw-Warteplatz unmittelbar an der südlichen Grenze des Grundstücks A… genehmigt wird. Hinsichtlich der Zulässigkeit ihrer Klage führt sie ergänzend aus, dass für sie mit der Aufstellung des Bauschildes, den bauvorbereitenden Maßnahmen und den Rammarbeiten natürlich erkennbar gewesen sei, dass auf dem Nachbargrundstück ein riesiges Logistikzentrums gebaut werde. Dass eine Zufahrt unmittelbar vor ihrem eigenen Grundstück und außerhalb des eigentlichen Baugrundstücks errichtet werde, sei hingegen nicht erkennbar gewesen, sondern habe sich erst im November 2016 abgezeichnet. Damit habe sie vor allem deshalb nicht rechnen müssen, weil das Werkstor 1, über das in der Vergangenheit die Zufahrten abgewickelt worden seien, weiterhin vorhanden gewesen sei. Nachbarn treffe keine Erkundigungspflicht im Hinblick auf Aspekte eines Bauvorhabens, die für ihn nicht ersichtlich seien.

Zur Begründetheit ihrer Klage wiederholt und vertieft sie ihr Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren, auf das sie verweist.

Die Klägerin beantragt, den Bescheid des Bezirksamtes Spandau von Berlin vom 9. Oktober 2015 (Nr. 2015/355) in Gestalt des Widerspruchsbescheids derselben Behörde vom 3. Juli 2017 aufzuheben, soweit dort eine Lkw-Zufahrt bzw. ein Lkw-Warteplatz unmittelbar an der südlichen Grenze des Grundstücks A… zugelassen ist.

Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Er erhält die Baugenehmigung für rechtmäßig und verweist zur Begründung im Wesentlichen auf den Widerspruchsbescheid vom 3. Juli 2017.

Die Beigeladene beantragt, die Klage abzuweisen.

Sie hält die Klage bereits für unzulässig, da die Klägerin ihr Widerspruchsrecht verwirkt habe. Jedenfalls sei die Klage aber unbegründet, da die Baugenehmigung rechtmäßig sei und die Klägerin nicht in ihren Rechten verletze.

Mit Schriftsätzen vom 25. August 2017, 3. Dezember 2019 sowie vom 26. Februar 2020 haben die Beteiligten ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch den Berichterstatter erklärt.

Das Gericht hat die Örtlichkeit in Augenschein genommen. Wegen des Ergebnisses der Augenscheinseinnahme wird auf die Sitzungsniederschrift vom 28. Mai 2020 verwiesen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Streitakte und den Verwaltungsvorgang des Beklagten (zwei Leitzordner) Bezug genommen, die vorgelegen haben und – soweit entscheidungserheblich – Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

Die Klage, über die der Berichterstatter mit dem Einverständnis der Beteiligten entscheiden konnte (§ 87a Abs. 3 i.V.m. Abs. 2 VwGO), hat keinen Erfolg. Sie ist unzulässig. Das Recht der Klägerin, der Baugenehmigung Nr. 2015/355 zu widersprechen, ist nach Treu und Glauben untergegangen. Sie hat der Baugenehmigung nicht innerhalb der Frist von § 70 Abs. 1 i.V.m. § 58 Abs. 2 VwGO widersprochen.

Diese Frist gemäß § 70 Abs. 1 i.V.m. § 58 Abs. 2 VwGO begann im Oktober 2015, spätestens aber am 8. Dezember 2015 zu laufen. Dem steht nicht entgegen, dass das Bezirksamt die Baugenehmigung der Klägerin erst im Februar 2017 amtlich bekannt gegeben hat. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts läuft zwar für Nachbarn, die sich durch eine Bauerlaubnis, die ihnen nicht amtlich bekannt gegeben worden ist, eine Widerspruchsfrist weder in unmittelbarer noch in analoger Anwendung der §§ 70 und 58 Abs. 2 VwGO. Hat der Nachbar jedoch gleichwohl sichere Kenntnis von der Bauerlaubnis erlangt oder hätte er sie erlangen müssen, so kann ihm nach Treu und Glauben die Berufung darauf versagt sein, dass sie ihm amtlich nicht bzw. erst später mitgeteilt wurde. Dann läuft für ihn die Widerspruchsfrist nach § 70 i.V.m. § 58 Abs. 2 VwGO bereits ab dem Moment, in dem er von der Bauerlaubnis sichere Kenntnis erlangt hat oder hätte erlangen können (vgl. BVerwG, Beschluss vom 11. September 2018 – BVerwG 4 B 34/18 -, juris Rn. 9 m.w.N.) so, wie wenn ihm die Bauerlaubnis amtlich bekannt gegeben worden wäre. Sichere Kenntnis von bzw. sicheres Kennenmüssen einer Bauerlaubnis liegt vor, wenn sich dem Nachbarn das Vorliegen einer Bauerlaubnis aufdrängen musste – etwa aufgrund eines sichtbaren Beginns der Bauausführung – und es ihm möglich und zumutbar war, sich hierüber z.B. durch Anfrage bei dem Bauherrn oder der Baugenehmigungsbehörde Gewissheit zu verschaffen (ebd., Rn. 11).

Bei Anwendung dieser Grundsätze muss die Klägerin hier gegen sich gelten lassen, dass für sie das Bauvorhaben und folglich das Vorliegen einer Baugenehmigung lange vor dem Zeitpunkt erkennbar war, in dem ihr die Baugenehmigung Nr. 2015/355 amtlich bekannt gegeben wurde. Das Gericht geht bei Würdigung der konkreten Sachverhaltsgestaltung davon aus, dass die Erkennbarkeit der angegriffenen Bauerlaubnis, allein darauf kommt es an (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 20. Dezember 2005 – OVG 10 B 10.05 -, juris Rn. 23), hier schon bei Erlass der Baugenehmigung gegeben war. Denn bereits die Aufstellung des Baustellenschildes am 7. Oktober 2015 – die sogar noch wenige Tage vor Ausreichung der Baugenehmigung erfolgte – versetzte die Klägerin in die Lage, das anstehende Baugeschehen wahrzunehmen (zur Anstoßpflicht der Baustellenschildaufstellung vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 29. April 2010 – OVG 10 S 5.10 -, juris Rn. 16). Das gilt umso mehr, als in diesem Zeitpunkt eine rund 30 m hohe Ramme auf dem Vorhabengrundstück positioniert wurde, die – wie der Ortstermin am 28. Mai 2020 bestätigt hat – vom Grundstück der Klägerin nicht übersehen werden konnte. In diesem Zeitpunkt musste sich der Klägerin aufdrängen, dass ein Großbauvorhaben, das bei lebensnaher Betrachtung nicht ohne Baugenehmigung verwirklicht wird, kurz vor Realisierungsbeginn stand. Jedenfalls aber mit Beginn der Erdarbeiten am 8. Dezember 2015 (Baufeldauffüllung) und der am 20. Dezember 2015 eingeleiteten Tiefgründungsarbeiten, die weitläufig wahrnehmbar gewesen sein dürften, war die Bautätigkeit nicht mehr zu übersehen (vgl. ebd.). Spätestens da musste die Klägerin um den Umstand gewusst haben bzw. hätte sie wissen müssen, dass auf dem Nachbargrundstück ein Großvorhaben verwirklicht wird.

Das bestreitet auch die Klägerin nicht. Sie räumt mit Schriftsatz vom 15. Dezember 2017 sogar ein (a.a.O., S. 2), dass infolge der genannten Umstände (also der Bauschildaufstellung, den bauvorbereitenden Maßnahmen […] und den Rammarbeiten) der Bau des Logistikzentrums erkennbar war und von ihr „natürlich“ erkannt wurde (Schriftsatz vom 14. Februar 2018, S. 2). Für sie sei jedoch die Anlage der Zufahrt und insbesondere des Lkw-Warteplatzes direkt südlich vor ihrem Grundstück nicht erkennbar gewesen, weshalb eine etwaige Frist ihrer Ansicht nach seinerzeit noch nicht angelaufen sei. Dabei übersieht sie allerdings, dass der Fristbeginn nicht erst an die Kenntnis einer Beeinträchtigung durch ein Bauvorhaben anknüpft, sondern an die Erkennbarkeit eines auch nur möglichen (!) Eingriffs in ihre Rechtsstellung (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Mai 1991 – BVerwG 4 C 4/89 -, juris Rn. 23 m.w.N.). Die Erkennbarkeit einer möglichen Beeinträchtigung ihrer Nachbarrechte war indes bereits mit der Erkennbarkeit des Bauvorhabens gegeben, zumal die konkrete Ausgestaltung des Anlieferungsregimes sowohl hinsichtlich der Zahl der damit zugelassenen Fahrten als auch dem Standort ihrer Abwicklung hier auch nicht so atypisch ist, als dass sie damit nicht hätte rechnen müssen. Insofern liegt der Sachverhalt nicht wesentlich anders als ein vom niedersächsischen Oberverwaltungsgericht entschiedener Fall, in dem sich ein Nachbar nicht gegen den Bau eines Kindergartens, wohl aber gegen die später erfolgte Aufstellung der Außenspielanlage zur Wehr setzte (Urteil vom 17. Januar 1997 – OVG 1 L 6347/95 -, juris). Dort urteilte das Gericht, dass die Jahresfrist des Nachbarn nach § 70 i.V.m. § 58 Abs. 2 VwGO nicht erst bei erkennbarer Anlage des Außenspielgeländes zu laufen begann, sondern bei „Kenntnis vom Bau des Kindergartens“ (die der Senat an das Richtfest anknüpfte, ebd., Rn. 13). Denn die Kenntnis vom Bau des Kindergartens beinhalte auch die mögliche und zumutbare Kenntnis von der Herstellung eines Außenspielgeländes (ebd.), weil es der allgemeinen Lebenserfahrung entspreche, dass Kindergärten über Außenspielgelände verfügten. Diese Erwägungen sind auf den hiesigen Fall im Wesentlichen übertragbar. Auch hier entspricht es der allgemeinen Lebenserfahrung, dass ein Versorgungszentrum dieser Größe eine beträchtliche Quantität an Lkw-Verkehr anzieht. War der Klägerin aber frühzeitig bekannt, dass ein „riesiges Logistikzentrum“ entstehen sollte, was sie selbst bestätigt, kann sie sich von der Zahl der zugelassenen Anlieferungen nicht ernsthaft verwundert zeigen. Auch die Standorte von Zufahrt und Warteplatz sind entgegen der Ansicht der Klägerin nicht völlig überraschend geregelt. Dass die Belieferung des Versorgungszentrums des B…-Werks über die Straße A… geleitet würde, ist angesichts der örtlichen Gegebenheiten (vor allem im Norden und Westen engere Straßenführung einerseits, nördlich und östlich teils angrenzende Wohnbebauung andererseits), mit denen die Klägerin vertraut ist, im Gegenteil sogar naheliegend. Dementsprechend ging auch die Klägerin davon aus, der Zulieferungsverkehr werde (weiter) über das Werktor 1 aufgenommen (Schriftsatz vom 15. Dezember 2017, S. 2). Ebenso regelt es nun die Baugenehmigung (s. S. 10 der Betriebsbeschreibung). Was die Klägerin eigenen Angaben zufolge nicht erwartet haben will, ist letztlich allein die Verkehrszuführung über das südlich vor ihr liegende Flurstück 2… und die Anordnung eines Lkw-Warteplatzes darauf. Das war wegen des zu erwartenden massiven Anlieferverkehrs, des deshalb nicht immer auszuschließenden Abfertigungsstaus und des Umstandes, dass der direkt vor dem (erweiterten) Tor 1 gelegene Grundstücksteil im Eigentum der Beigeladenen steht, und baulich kaum anders nutzbar ist, indes ebenfalls nicht fernliegend, weswegen sie eine diesbezügliche Unvorhersehbarkeit nicht überzeugend geltend machen kann. Dann musste sich der Klägerin aber aufdrängen, dass von dem Vorhaben auf dem Nachbargrundstück und seinem Verkehrsaufkommen für sie ggf. beachtliche Auswirkungen zu erwarten waren.

Wollte man das anders sehen und entgegen dem Vorstehenden mit der Klägerin annehmen, für sie war weder die Zufahrtsführung noch die Anordnung eines Warteplatzes vor ihrem Grundstück ohne Kenntnis der Bauunterlagen vorhersehbar, hinderte im Übrigen auch das den Fristbeginn im Oktober 2015 nicht. Es ist für den Fristlauf nach Treu und Glauben nicht erforderlich, dass das Bauvorhaben in allen Einzelheiten bekannt oder auch nur vorhersehbar ist. Allein der Umstand, dass Kenntnis von einem in seinen wesentlichen Umrissen bekannten Vorhaben besteht, begründet für den Nachbarn schon die im nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis wurzelnde Pflicht, sich über das Bestehen und der Geltendmachung seiner Nachbarrechte zeitnah zu vergewissern (vgl. Urteil der Kammer vom 16. Dezember 2019 – VG 19 K 285.18 -, juris Rn. 35). Schließlich ist in der Rechtsprechung geklärt, dass ein Nachbar, der sich gegen ein Bauvorhaben wehren will, bei erkennbarer Bautätigkeit auf seinem Nachbargrundstück nicht passiv verharren darf (vgl. BVerwG, Beschluss vom 16. April 2002 – BVerwG 4 B 8/02 -, juris Rn. 11). Ihn trifft eine Pflicht zu positivem Tun, die das Bundesverwaltungsgericht aus dem zivilgerichtlich entwickelten, aber auch im öffentlichen Recht bedeutsamen nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis abgeleitet hat. Diese Pflicht beruht auf der Überlegung, dass das Angrenzen von Grundstücken und die zu ihrer Bebauung notwendigen Verwaltungsakte Doppelwirkung entfalten und daher den grenznachbarlich Verbundenen besondere Rücksichten gegeneinander abverlangen (vgl. grundlegend BVerwG, Urteil vom 25. Januar 1974 – BVerwG IV C 2.72 -, juris Rn. 24). Aus diesem Grund verpflichtet das nachbarliche Gemeinschaftsverhältnis den Nachbarn, durch ein zumutbares aktives Handeln daran mitzuwirken, einen wirtschaftlichen Schaden des Bauherrn – seines Nachbarn – zu vermeiden oder dessen Vermögensverlust möglichst niedrig zu halten. Zum zumutbaren aktiven Handeln zählt regelmäßig auch, sich bei möglicher Erkennbarkeit der Bautätigkeit auf dem Nachbargrundstück der Baugenehmigung und ihrer den Nachbarn ggf. betreffenden Aspekte zu vergewissern. Daraus folgt: Ab dem Zeitpunkt, an dem der Nachbar davon ausgehen muss, dass der Bauherr eine Bauerlaubnis erhalten hat, hat er sich also regelmäßig innerhalb eines Jahres über die Genehmigungslage zu informieren (BVerwG, Beschluss vom 11. September 2018, a.a.O., Rn. 11); das heißt, er muss das Vorliegen der Baugenehmigung und ihre näheren Einzelheiten prüfen (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 29. April 2010, a.a.O., Rn. 17). Insoweit trifft die Klägerin entgegen ihrer Ansicht durchaus eine Erkundigungspflicht (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 20. Dezember 2005, a.a.O., Rn. 24). Gründe, die es der Klägerin – entgegen dieses Grundsatzes – hier ausnahmsweise unzumutbar erscheinen lassen, die Baugenehmigung auf eigene Rechtsverletzungen zu prüfen, sind nicht ersichtlich.

Und selbst wenn man eine Erkundigungspflicht von Nachbarn in typischen Nachbarschaftskonstellationen entgegen der hiesigen obergerichtlichen Rechtsprechung grundsätzlich als zu weitgehend ansehen wollte, gebieten es hier jedenfalls die Besonderheiten des streitgegenständlichen Falles, die in der objektiv erkennbar außergewöhnlichen Kostenintensität des Bauvorhabens liegen, der Klägerin Erkundigungspflichten aufzuerlegen. Denn ist der dem Bauherrn drohende wirtschaftliche Schaden ersichtlich außergewöhnlich groß, verlangt das nachbarliche Gemeinschaftsverhältnis dem Nachbarn auch ein „Mehr“ an Mitwirkung ab, das zumindest dann eine Erkundigungspflicht bei der Bauaufsicht beinhaltet. Kommt die Klägerin – wie hier – ihrer Mitwirkungs- und damit Erkundigungspflicht jedoch nicht nach, kann sie eine Unkenntnis von Details eines Bauvorhabens, die ihr über eine gehörige Erkundigung bekannt geworden wären, nicht mit Erfolg einwenden.

Die nach dem Gesagten noch im Oktober 2015, spätestens aber ab dem 8. Dezember 2015 angelaufene Frist, die grundsätzlich ein Jahr beträgt, wurde hier versäumt, denn die Klägerin hat Widerspruch erst am 21. Februar 2017 erhoben. Die Frist ist hier selbst dann versäumt, wenn man schon das Schreiben der Klägerin vom 23. Dezember 2016 an die Behörde, mit dem sie um Übersendung unter anderem der Baugenehmigung bat, als beachtlich ansehen wollte, obwohl dies (noch) keinen Widerspruch darstellte (vgl. zu einem als beachtlich eingestuften Akteneinsichtsantrag BVerwG, Beschluss vom 11. September 2018, a.a.O., Rn. 12). Auch dieses Schreiben ging erst nach Ablauf der Jahresfrist ein. Daher kann dahinstehen, ob hier nicht aufgrund des sich aufdrängenden hohen Investitionsaufwandes der Beigeladenen sogar besondere Umstände vorgelegen haben, die die Annahme einer deutlich kürzeren Frist rechtfertigen könnten, wofür hier sehr viel spricht (vgl. hierzu OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 20. Dezember 2005, a.a.O., Rn. 25, wo schon bei einem Investitionsvolumen von 5 Millionen Euro eine Fristverkürzung auf sechs Monate als interessengerecht angesehen wurde).

Diese Fristversäumnis wurde wegen des dreipoligen Streitverhältnisses auch nicht durch die Entscheidung der Widerspruchsbehörde geheilt (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 11. März 2010 – BVerwG 7 B 36.09 -, juris Rn. 21 m.w.N.).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 und § 162 Abs. 3 VwGO. Dementsprechend waren die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen für erstattungsfähig zu erklären, weil sie einen eigenen Antrag gestellt hat und damit ein eigenes Kostenrisiko eingegangen ist (vgl. § 154 Abs. 3 VwGO). Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

Ein Grund, die Berufung zuzulassen, ist nicht gegeben, §§ 124a Abs. 1 Satz 1, 124 Abs. 2 Nr. 3 oder 4 VwGO.

Beschluss

Der Wert des Streitgegenstandes wird gemäß §§ 39 ff., 52 f. des Gerichtskostengesetzes auf 7.500,00 Euro festgesetzt.

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